Peter König, Der Bund (24.11.2015)
Antonin Dvoraks Nixenoper «Rusalka» hat bei Konzert Theater Bern wenig Märchenhaftes. Erzählt wird der Albtraum einer jungen Frau, die aus der Tristesse ausbrechen will. Orchester und Ensemble bringen die Musik zum Leuchten.
«Rusalka» auf den Spielplan zu setzen, ist für die slawische Oper etwa so originell wie «Tosca» für die italienische. Mutlosigkeit von Konzert Theater Bern oder gezielte Wahl eines Meisterwerks? Denn das ist Antonin Dvoraks 1901 uraufgeführte Nixenoper allemal, genauso wie die ein Jahr ältere «Tosca». Da stört es auch nicht, dass das Werk letzte Saison in Biel zu sehen war.
So wenig wie der Mobilität des Publikums trauen die Berner Verantwortlichen dessen Sprachempfinden; anders als in Biel wird in Bern auf Deutsch (!) gesungen. Deutsch mit deutschen Übertiteln. So wird die Textverständlichkeit der Solisten paradoxerweise zum Problem, denn sie macht alle prosodischen Defizite der Übersetzung überdeutlich. Nicht nur bei Rusalkas Arie im dritten Akt führt dies zu unfreiwilligen Pointen; schade.
Slawischer Duktus
Davon abgesehen ist fast nur Gutes zu berichten. Dvoraks überreiche, symphonisch angelegte und leitmotivisch geprägte Partitur wird vom ersten Moment an zum Leuchten gebracht. Das Werk, das hochromantische Ansätze mit geradezu impressionistischem Tongemälde verbindet, ist beim philippinischen Dirigenten Adrian Prebava in besten Händen. Hellwach lotet er dynamische Weiten aus, lässt die Streicher atmen und die Holzbläser sich schön auffächern. Vorzügliche Sololeistungen im Graben (immer wieder die Harfe!) fügen sich perfekt in das grosse Ganze ein. Adäquate Tempi und ein, ja, slawischer Duktus lassen keine Wünsche offen.
Auf ähnlich hohem Niveau bewegt sich das Sängerensemble: angefangen bei den wüst hergerichteten, aber schön harmonierenden Waldelfen (Yun-Jeong Lee, Franka Friebel und Michela Polkehn) bis hin zum Hauspersonal: Andries Cloete als Heger chargiert zwar arg, und Sophie Rennert ist als Küchenbursche von der Regie massiv überkarikiert, gesanglich sind sie Luxusbesetzungen.
Hexen im Doppelpack
Dann die Hexen: Claude Eichenberger gibt die Jezibaba mit einem guten Schuss Humor, so aufgetakelt, dass sie jederzeit die Moderation von «Einer gegen hundert» übernehmen könnte. Die fremde Fürstin (Ursula Hesse von der Steinen) kommt als eine Art Rita Hayworth daher, bösartig und abgefeimt. Schwer zu sagen, welche der beiden mehr auf Rache sinnt. Beide sind – einer der reizvollen Aspekte des Stücks – ohne die andere nicht zu denken. Dass die zwei Mezzosopranistinnen ähnlich gefärbte Stimmen haben, erhöht den Reiz zusätzlich.
Eine besondere Rolle hat der Wassermann: Ist er nun das Alter Ego von Jezibaba oder doch von Rusalka? Der Wassermann steht irgendwie zwischen den beiden – und zwischen den Welten, als Warner, aber auch als derjenige, der Rusalka von den Menschen heimholt. Kai Wegner verkörpert und singt ihn vorbildlich gestaltend, fein ausdifferenziert und mit der nötigen Tiefe.
Rusalka ist vom Prinzen verraten worden nach Männerart; für eine andere, schönere liess er sie stehen. Bei diesem Prinzen stehen Charakter und Gesangspartie in frappantem Gegensatz, denn Dvorak hat ihm wunderschöne Kantilenen auf den Leib geschrieben. Der grossartige australische Tenor Angus Wood verfügt über Schmelz, Metall, Attacke und ein warmes Timbre, nur am Ende des zweiten Aktes muss er der Anstrengung kurz Tribut zollen.
Die Nixe als Gegenentwurf
So markant aufgepeppt all diese Figuren sind, so bescheiden kommt Rusalka daher: In schlichtem Weiss und mit rotem Kurzhaarschnitt, eine Fremde im Waldsee und eine Fremde unter den Menschen. Evgenia Grekova verfügt über alle für die Nixe nötigen vokalen Mittel. Mit höhensicherem, leuchtend expansionsfähigem Sopran meistert sie nicht nur das Lied an den Mond im ersten Akt, sondern die gesamte – trotz stummem Mittelteil – grosse Partie. Die scharfe Zeichnung der Figuren (Kostüme: Justina Klimczyk) gehört zum Konzept: Regisseur Markus Bothe ist weder der Versuchung eines naturalistischen Waldszenarios noch gar eines Weihnachtsmärchens erlegen. Man erlebt stattdessen den Albtraum einer jungen, unerfüllten Frau, die aus der Tristesse ausbrechen will.
Was gemäss Libretto ein dunkler Waldsee ist, ist hier eine Wohnung mit Siebzigerjahre-Mief (Bühne: Ralph Zeger). Der Ausbruch ist schmerzvoll, Rusalka entledigt sich ihres Fischschwanzes mittels einer eigentlichen Amputation. Zugleich ist ihre Stimme weg, sie kann nun zu den Menschen, darf aber dort nicht sprechen. In grellem Kontrast zur Wohnung steht der Festsaal im zweiten Akt, als Chiffre für Gefühlskälte und Liebesunfähigkeit. Der barbiemässig aufgebrezelte Chor wirkt wie ein Klassentreffen vierzig Jahre nach College-Abschluss. Im dritten Akt ist die Wohnung vereist, vielleicht etwas überdeutlich, man hat längst begriffen, worum es geht: Die Liebe ist unmöglich, hier wie dort. Der Prinz muss sterben, sei es durch Rusalkas Messer oder ihren Kuss. Als Konstante über allem schwebt der Vollmond, auch er eine Chiffre. Er steht über den Welten und kann sie doch nicht verbinden – bleich, kalt und unerreichbar.