Damals oder heute: Es leidet das Volk

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (24.10.2015)

Chowanschtschina, 22.10.2015, Basel

Die Saison-Eröffnung am Theater Basel war am Donnerstag gleichzeitig der Startschuss für die neue Intendanz von Andreas Beck. Mit Mussorgskys anforderungsreicher Oper
«Chowanschtschina» waren die Ambitionen hoch – und wurden grösstenteils eingelöst.

Wie haben sich die Zeiten doch geändert: Im ehemaligen Ostblock durfte man um Himmels willen auch nicht aus Versehen einen Bahnhof fotografieren. Und jetzt konnten sich der Bühnenbildner Zinovy Margolin und sein Video-Filmer Yury Yarushnikov quer durch Russland bewegen und minutenlang Gleisanlagen filmen, marode Schienen im Schnee und als Höhepunkt sogar einen Militärzug mit Panzern und Kanonen drauf. Das passt bestens, in dieser Inszenierung die Bedrohung durch die Zarentruppen zu illustrieren, wenn der Zug vor dem Wartesaal vorbeifährt in dem die Truppen von Chowanski – in Basel sind sie tschetschenische Rebellen – gerade Marschhalt eingelegt hat.

Damit ist auch gesagt, wo der junge russische Regisseur Vasily Barkhatov, der zum ersten Mal in Westeuropa inszeniert, Mussorgskys im 17. Jahrhundert spielende Kriegs- und Volks-Oper «Chowanschtschina» angesiedelt hat: Heute. Irgendwo in den Weiten Russlands. Die in die Enge getriebenen Altgläubigen sind Flüchtlinge mit Koffern, Kind und Kegel, wie wir sie diesen Sommer fast jeden Tag in den Nachrichten gesehen haben. Der Bojar Schaklowity wird als potenzieller Selbstmord-Attentäter gezeichnet. Was gleich bleibt: Es leidet das Volk, das arbeitet die Inszenierung in starken Bildern, die haften bleiben, heraus. Wie sie auch die Aufwertung gewisser weniger zentraler Figuren, die ihre besonderen Akzente und Farben bekommen, gekonnt in die Hände nimmt.

Ungereimtheiten im Stück

Ungeschickter ist, dass die Massenszenen durcheinandergeraten: Die Aufständischen des vierten Akts sind dieselben Chorsänger, die im fünften in identischen Kostümen die Altgläubigen spielen, die sich im kollektiven Selbstmord verbrennen. Da wird vom Publikum ein Abstraktionsvermögen von Szenen und Figuren verlangt, die gerade in solchen aktualisierten Inszenierungen ja eigentlich zusätzliches Profil erhalten sollten. Es gibt noch mehr solche Ungereimtheiten in dieser Inszenierung. Zum Beispiel bringt Marfa ihre Konkurrentin um die Liebe von Andrei, Emma, kaltblütig um, was schlecht passt zur demütigen Anführerin der Märtyrer in den Flammentod – ganz zu schweigen von Mussorgkys Musik. Jedenfalls müsste die Regie solche Gesinnungswandel weit deutlicher machen.

«Chowanschtschina» ist eine der ganz grossen Chor-Opern und Basel verfügt über einen hervorragenden und in den letzten Jahren konstant auf sehr hohem Niveau singenden Opernchor unter der Leitung von Henryk Polus. Rein klanglich und in der Ausgewogenheit der Stimmen war das auch in dieser Produktion nicht anders, die Präzision hingegen
litt an der Premiere noch weit über Gebühr. Der ukrainische Dirigent Kirill Karabits hatte alle Hände voll zu tun, Orchester und Bühne zusammenzuhalten, und musste doch immer wieder mit grosser Geste korrigieren und Löcher stopfen. Darunter litt ein wenig der Klangfarbenreichtum dieses unvollständig hinterlassenen Oper, die von Schostakowitsch gekonnt orchestriert und von Strawinsky komplettiert wurde. Vieles klang an der Premiere noch pauschal und bisweilen hemdsärmlig, teilweise auch unnötig laut. Daran schuld waren allerdings auch zwei Herren im Sänger-Ensemble: Vladimir Matorin als Chowanski packte sehr gerne und meistens auch gut die grosse Bass-Geste aus, hin und wieder musste er mit einigen stimmlichen Rauheiten allerdings dafür büssen.

Mit russischer Bass-Kultur

Sein Bass-Kollege Dmitry Ulyanov als Dossifei übertrumpfte ihn gar noch – und das ohne die geringsten stimmlichen Einbussen. Beeindruckende russische Bass-Kultur, aber was die Rollengestaltung betrifft, wäre es bisweilen ein wenig differenzierter schöner gewesen. Eine Spur weniger brachial, aber mit intakten, vollen Stimmen sangen Dmitry Golovnin den Golizyn und Pavel Yankovsky (trotz Erkältung) den Schaklowity. Aus dem eigenen Ensemble schlug sich Rolf Romei als Andrei gegen die russische Konkurrenz achtbar. Die weibliche Hauptrolle Marfa sang Jordanka Milkova mit schön und bruchlos zeichnender Stimme, die allerdings sehr monochrom klingt und weder über grosse Klangfarbenschattierungen noch dramatische Schärfungen verfügt.