Sigfried Schibli, Basler Zeitung (24.10.2015)
Opulenter Saison- und Intendantenstart am Theater Basel mit der Oper «Chowanschtschina» von Mussorgski
Eisenbahnen kommen eigentlich keine vor in der fünfaktigen Oper «Chowanschtschina» (ungefähr: «Chowanschtscherei» oder «Chowanscschi-Schweinerei») von Modest Mussorgski, einem unvollendet gebliebenen Werk aus den Achtzigerjahren des 19. Jahr- hunderts. Dies aus dem einfachen Grund, weil das Stück im 17. Jahrhundert spielt und von weit zurückliegenden Themen der russischen Geschichte handelt: vom Machtkampf der Fürsten Iwan Chowanski und Golizyn, der im Hintergrund bleibenden Allmacht des grausamen Zaren Peter und der Rolle der Kirche, verkörpert durch den ehemaligen Fürsten Dosifej, der sich ganz seiner geistlichen Mission verschrieben hat und das Volk am Ende in den Opfertod auf dem Scheiterhaufen führt.
Eisenbahnen sind in diesem Stück also keine vorgesehen und im Grunde auch völlig unnötig. Gleichwohl flimmern schon während der Ouvertüre dieser Basler Erstaufführung – seidenweich und geschmeidig gespielt vom Sinfonieorchester
Basel unter dem ukrainischen Gastdirigenten Kirill Karabits – rasend schnelle Filmbilder von Bahnhöfen, Eisenbahnschienen und ratternden Zügen über den Vorhang.
Zu Beginn werden wir Zeugen, wie Soldaten in Kampfanzügen nach einer kriegerischen Auseinandersetzung Leichen in einen Bahnwaggon werfen. Immer wieder sehen wir Wartesäle und Wartesituationen, wie sie für Zugreisende
typisch sind. Auch wenn das Volk in «Chowanschtschina» bekanntlich nicht auf den Zug wartet, sondern auf Befreiung aus der Knechtschaft und Erlösung von allem Übel.
Die Hoffnung stirbt nicht
Sie bleiben ihm versagt: Kein Zug wird kommen, und am Ende des langen Abends bleibt dem darbenden Volk, das geduldig an den Gleisen ausharrt, nur der geistliche Trost und die vage Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits. Das
von Dosifej verteilte Blut Christi, oder was die Gläubigen dafür halten, steht an der Stelle einer wirklichen Befreiung. Dann nehmen die Menschen Abschied vom Leben und legen sich auf die Schienen.
Im Stück triumphiert nicht die echte Liebe zwischen Menschen, sondern die Abhängigkeit von Iwans Sohn Andrej, der eigentlich seiner Emma nachtrauert, von der bigotten Marfa. Diese schwarze Magierin – die einzige grosse Frauenrolle in dem männerdominierten Stück – hat zuvor Emma erstickt und schliesst sich dann heuchlerisch den Altgläubigen um den Popen Dosifej an. Es gibt keine wirkliche Liebe, so die pessimistische Botschaft des Trinkers und politischen Realisten Mussorgski.
Es ist schon eine ziemlich verwickelte Story, die auch in der gekürzten Basler Fassung noch kompliziert genug ist. Der 32-jährige Moskauer Regisseur Vassily Barkhatov (Bühne: Sinovy Margolin) hat die Handlung zwar ein wenig entwirrt,
indem er Nebenfiguren wie den Pastor strich und die Verbannung des Fürsten Golizyn wegliess. Aber er hat sie durch manche Nebenaktion dann wieder angereichert. So richten die Figuren unentwegt Pistolen und Sturmgewehre aufeinander, und die dämonische Marfa zeigt ihre übersinnlichen Kräfte, indem sie die Patronen aus Andrejs Gewehr zaubert.
Für das Drama unwichtige, aber orchestral bezaubernde Abschnitte wie der Tanz der Perserinnen im vierten Akt – ein Sonderlob für die Holzbläser des Orchesters! – bleiben erhalten. So bringt es der Basler Opernabend mit Pause auf
über drei Stunden. Es ist ein Kraftakt sondergleichen und ein machtvolles Statement des neuen Intendanten Andreas Beck und seiner Operndirektorin Laura Berman. Niemand soll sagen können, dass der aus Wien nach Basel berufene Schauspielmann Beck die Oper vernachlässige.
Besetzung erster Güte
Und niemand wird sagen, dass das Theater Basel beim Personal gespart hat. Die Produktion prunkt mit einer Sängerbesetzung, die einer Weltstadt würdig wäre. Da ist der mächtige Schwarzbass Vladimir Matorin als Iwan Chowanski – ganz rüpelhafter Machthaber und Genussmensch, der vor lauter Selbstsicherheit übersieht, wie sehr er gefährdet ist. Das alte Klischee des masslosen, fress- und saufsüchtigen Russen wird reichlich bedient. Als sein aalglatter, verräterischer Boyar Shaklovity (trotz Indisposition beeindruckend: Pavel Yankovsky) ihn umbringen will, kommt er diesem zuvor und erschiesst sich. Noch imponierender ist der Dosifej von Dmitry Ulyanow – ein Riese mit einer Riesenstimme, die er vollkommen kontrolliert und bis in den hintersten Winkel des Theaters dringen lässt. Fürst Golyzin ist bei Dmitry Golovnin gut aufgehoben; der russische Tenor verkörpert plastisch den weltgewandten Strategen als Gegenpol zum Polterer Iwan.
Mysteriöse Magierin
Die weibliche Hauptpartie der Marfa wird von der bulgarischen Mezzosopranistin Jordana Milkova gesungen. Vielleicht noch ein wenig flach in der Tongebung und kühl in der szenischen Darstellung, aber insgesamt einleuchtend. Sofern einem eine derart mysteriöse, aus dem russischen Mythenwesen geborene Gestalt überhaupt einleuchten kann. Ihr Strophenlied im dritten Akt hallt lange nach.
Rolf Romei, ein Überlebender aus dem früheren Basler Opernensemble, ist der sportive Sohn Andrej und Liebhaber der blonden Deutschen Emma (Betsy Horne), der sich auch nach ihrem Tod nicht von ihrem blauen Reisekoffer trennen kann. Unter den weiteren Partien ragt der Kuska des jungen Tenors Nathan Haller aus dem Opernstudio hervor. Karl-Heinz Brandt als Schreiber war in der Premiere als erkältet gemeldet und kam daher stimmlich nicht optimal über die Runden. Eine bedeutende Rolle spielt der von Henryk Polus einstudierte Theaterchor mitsamt Extrachor, der das ewig auf der Flucht befindliche, auf nie eintreffende Züge wartende Volk darstellt. Da ist hör- und sichtbar intensiv geprobt worden, ebenso wie mit dem hervorragend aufgestellten Sinfonieorchester, das in der Premiere keinerlei Schwächen zeigte, differenziert begleitete und vor allem in den Blechbläsern ungemein präsent war.
Dekoration statt Interpretation
Nun aber die Kernfrage: Ist diese Inszenierung, die vom Basler Premierenpublikum am Donnerstag mit rhythmischem Klatschen bedacht wurde, wirklich eine Grosstat der modernen Opernregie oder vielleicht doch nur ein modern aufgepeppter Opernschinken?
Leider das Letztere. Man ertappt sich an diesem langen, lauten, alle Sinne in Beschlag nehmenden Abend dabei, von der Leistung aller Beteiligten beeindruckt, aber nicht wirklich emotional berührt zu werden. Der Stoff bleibt – der modernisierenden Regie zum Trotz – fern und fremd. Es gibt zu viele Theaterbärte, Theaterwodka, Theaterwaffen, Theaterpelze, Theaterschnee, Theaterblut und Theaterqualm. Zu viele Widersprüche zwischen den Motiven dieser Oper und dem, was man auf der Bühne sieht. Und zu weniges, was uns Heutige betreffen könnte. Dekoration statt Interpretation. Man kann das, was das Regieteam mit «Chowanschtschina» angestellt hat, Aktualisierung nennen, und vielleicht spricht das ja auch eine jüngere, eher opernferne Generation an. Aber im Grunde ist es erzkonservatives Musiktheater, opulent dekoriert und irgendwie belanglos. Wir verlassen das Theater so leer, wie wir es betreten haben.
Am Schluss gab es viel Applaus und, ein sympathisches Geschenk des neuen Leitungsteams, Gratissekt für alle im frisch renovierten Haus.