Christian Fluri, Mittelland Zeitung (24.10.2015)
Der bejubelte Saisonstart des Theaters Basel mit Mussorgskis düsterer, beklemmender «Chowanschtschina»
Die grosse Spannung, mit der der späte Start des Theaters Basel unter seinem neuen Intendanten Andreas Beck erwartet wurde, löste sich nach dreieinhalb Stunden packendem Musiktheater im Jubel des Publikums auf. Dies nach einem Werk, das mit einem kollektiven Selbstmord pessimistisch endet: Die Oper «Chowanschtschina», an der Modest Mussorgski bis zu seinem Tod im Jahr 1881 komponierte. In Basel wird die heute prägnanteste Fassung mit der Orchestrierung von Dmitri Schostakowitsch und dem Finale von Igor Strawinsky gespielt. Die grosse anspruchsvolle Chorund Historienoper erlebt in Basel die Erstaufführung – sie ist von packender Dramatik.
Der junge, erstmals in Basel arbeitende Russe Vasily Barkhatov inszeniert den Massenselbstmord beklemmend. Der ukrainische Dirigent Kirill Karabits, das Sinfonieorchester Basel und der grandiose Chor spitzen das Finale musikalisch zu; das geht unter die Haut. Verlorene Menschen im Bahnhof warten nur noch auf das Nichts. Sie lassen sich vom religiösen Führer Dossifei und seiner Kumpanin, der todestrunkenen, unglücklich liebenden Marfa, zum kollektiven Selbstmord verführen. Sie steigern sich in religiöse Ekstase, trinken aus dem von Dossifei hochgehaltenen Kelch das mit sakralem Wein vermischte Gift und schreiten in ihrem Wahn, in Erwartung einer hellen Ewigkeit, elendiglich zu Tode. Strawinsky lässt die Musik in Totenstille ersterben – was Karabatis tief berührend umsetzt.
In der Kälte und Öde Russlands
Bei Mussorgski sterben die von der offiziellen Kirche abtrünnigen Altgläubigen im Feuer. Barkhatov transponiert den Schluss – wie die ganze Operngeschichte – in die Gegenwart. Die Menschen, die in den Tod gehen, sind verarmtes Volk oder Flüchtlinge, arme Leute ohne Heimat, ohne Zukunft, die nach der Religion – wie nach einem Rettungsfaden – greifen. Seine Regie erzählt, wie aktuell diese weit über 100 Jahre alte Oper mit der Geschichte aus dem späten 17.Jahrhundert ist.
Mussorgski verwebt drei Handlungsstränge: Der Fürst und Führer der Sterlitzen (Palasttruppen), Iwan Chowanski, nutzt das Machtvakuum in Russland vor Zar Peters Machtergreifung. Er will Sohn Andrei auf den Zarenthron hieven und verliert. Dabei spielt ein Machtkampf innerhalb der orthodoxen Kirche mit. Der dritte Strang ist eine Liebesgeschichte. Andrei Chowanski, der Marfa Liebe geschworen hat, entbrennt für eine andere. Marfas tödliche Rache ist wichtiger Motor der Oper.
Barkhatov verlegt die Handlung ins heutige Russland, in eine öde Landschaft, wie wir sie aus Filmen von Andrei Tarkowski kennen. Zwischen den Akten zeigen Yury Yarushinikovs Schwarzweiss-Videobilder diese trostlose, verlassene Weite. Hauptspielort ist ein Bahnhof: Was das Regieteam mit dem Bühnenbildner Zinovy Margolin und der Kostümbildnerin Olga Shaishmelashvili länger schon konzipiert hat, hat durch das Flüchtlingsdrama im Osten Europas brennende Aktualität erhalten. Der Bahnhof in der Öde hat symbolische Bedeutung. Das Volk ist hier gleichsam abgestellt: Es ist den Machtkämpfen und todbringenden Intrigen ausgesetzt, ohne einen Anflug von Selbstbestimmung flieht es in Heilsversprechen und stürzt in das unsägliche Leiden, dem es entrinnen will.
Das ist mehr als Barkhatovs russischer Blick auf die Oper, nicht nur aktuell für Russland, das heute genauso in den Fängen kirchlicher und politischer Macht steckt. Frappierend, wie Barkhatov präzis auf die Mussorgskis-Musik arbeitet, in ihre düsteren Tiefen horcht, und wie detailgenau er in seiner szenischen Erzählung arbeitet und wie entlarvend seine Zeichensprache ist. Die höchsten religiösen Insignien stecken in einem Aktenkoffer.
Marfa wird bei ihm zur zentralen Figur, die den Untergang aller antreibt. Der Regisseur zeichnet sie als Intrigantin. Jedes Wort kann Lüge sein. Schlicht grandios ist, wie die Mezzosopranistin Jordanka Milkova ihre Rolle lebt und sängerisch gestaltet. Hier bringt sie ihre Nebenbuhlerin kalt um, zum leisen, klagenden Lied verratenen Liebe. Die zerstörerische Leidenschaft und die gleichzeitige Kälte, mit der sie ihren Plan umsetzt, wird in jedem Ton der dunklen Stimme hörbar.
Die Russen überzeugen
Es wird durchweg gut gesungen. Allen voran die Russen in den Hauptrollen: Vladimir Matorin singt den Iwan Chowanski mit mächtigem, schwarzem Bass, zeichnet genau, wie die diktatorische Figur in der Niederlage einbricht. Ob Matorin die machthungrige Fürstenfigur überzeichnet oder an seine spielerischen Grenzen kommt, bleibe offen. Dmitry Ulyanov mit seinem durchdringenden, agilen Bass ist ein fieser Kirchendiktator, herrisch und hinterhältig. Eine Entdeckung ist auch der Tenor Dmitry Golovnin als Fürst Golizyn, der sich im Machtpoker auf die Seite Chowanskis stellt, ein selbstverliebter, abergläubischer Schnösel. Gegen den Chowanski-Clan intrigiert Bojar Schaklowity, der zwar obsiegt und doch mit allen untergeht. Der junge russische Bariton brilliert trotz Erkältung mit markanter Rollengestaltung, wie alle Figuren von Anfang an dem Tode geweiht. Auch das erzählt Barkhatovs düstere Inszenierung.
Die Mitglieder des Basler Ensembles halten mit. Rolf Romei zeigt als verwöhnter Fürstensohn Andrei Chowanski in Spiel und Gesang starke physische Präsenz. Die Hauptfigur ist aber der grosse Chor, der eine ergreifende sängerische Kraft entfaltet. Er wird entsprechend aus dem Orchestergraben getragen. Kirill Karabits und das Sinfonieorchester malen die düsteren, auch die lyrischen Farben plastisch und entfachen ein dramatisches Feuer, das den Gesang auf der Bühne nie überdeckt.
Mit dem Riesenwerk «Chowanschtschina» setzt die neue Crew um Intendant Beck und Operndirektorin Laura Berman einen Auftakt nach Mass.