Eine Erleichterung und ein Schwergewicht

Herbert Büttiker, Der Landbote (26.10.2015)

Chowanschtschina, 22.10.2015, Basel

Endlich ging es los im Theater Basel. Das neue Leitungsteam eröffnete mit Mussorgskis Volksdrama «Chowanschtschina» die Spielzeit – aufregend nach viel Aufregung wegen der Renovationsarbeiten.

Ein dreieinhalbstündiger Abend, fünf Akte mit Umbauten, im Graben das gross besetzte Sinfonieorchester, zahlreiche Solisten und im Zentrum des «Musikalischen Volksdramas» um die Machtkämpfe in Russland am Ende des 17. Jahrhunderts die Chöre des Basler Theaters – der neue Intendant Andreas Beck hat sich für seinen Einstand ein ebenso unbequemes wie grandioses Stück vorgenommen, mit überwältigendem Erfolg. Vergessen war am musikalisch wie szenisch herausragenden Abend, dass es für das neue Team am Theater Basel ein «brutaler Horror-Start» war, wie die «Basler Zeitung» den neuen Indentanten Andreas Beck zitiert, der zuletzt Künstlerischer Leiter am Schauspielhaus Wien war.

Ein Premierenreigen

Grund für den vermiesten Auftakt sind die Renovationsarbeiten im 1975 eröffneten Haus, die sich Basel 72 Millionen Franken kosten lässt und in vier Etappen erfolgen. Bei der ersten, von der eine neue Bestuhlung für das Publikum das sichtbarste Resultat ist, gab es Verzögerungen, die den ohnehin unüblich spät angesetzten Saisonstart bis zuletzt gefährdeten.

Der glückliche Start mit dem Schwergewicht war somit zunächst eine Erleichterung. Dies umso mehr, als ein ganzer Premierenreigen folgen sollte, am Freitag eine «Marathon-Vorstellung» im Schauspielhaus («Engel in Amerika» von Tony Kushner), am Samstag die Uraufführung «Schlafgänger» nach dem Roman von Dorothee Elmiger ebenfalls im Schauspielhaus, dann am 30. Oktober wieder auf der grossen Bühne Maxim Gorkis «Kinder der Sonne».

Mutige Wahl

Als sich das neue Team vorstellte, machte das Wort von einer «Basler Dramaturgie» die Runde. Welche Signale setzte die erste Produktion? Die Saison bringt im Musiktheater unter anderem auch eine neue «Zauberflöte», den Musicalhit «Jesus Christ Superstar», Verdis «Macbeth». Mussorgskis «Chowanschtschina» steht da vergleichsweise am Rand des Repertoires und ist als Stück, dessen Handlung auf schwer durchschaubaren Hintergründen basiert, eine schwierige Inszenierungsaufgabe. Hinzu kommen die musikalischen Herausforderungen, die schon mit der Wahl der Fassung beginnen. Zu hören ist die weniger geläufige von Dmitri Schostakowitsch (mit dem Schluss der Strawinsky-Fassung), die gegenüber der spätromantisch-sinfonisch beladenen und gekürzten Fassung von Nikolai Rimski-Korsakow als Mussorgskis Intentionen näher gilt.

Eine mutige Wahl also – und eine gute Entscheidung, was das Leitungsteam und die Besetzung der Hauptpartien für die im russischen Original gegebene Oper betrifft. Die Namen zeigen: eine Ost-Wahl mit russischem Regisseur und ukrainischem Dirigenten. Vasily Barkhatov (Inszenierung), Zinovy Margolin (Bühne) und Olga Shaishmelashvili (Kostüm) folgen aber durchaus der vertrauten internationalen Praxis, das Geschehen in die Gegenwart zu rücken, beziehungsweise in einem schon in die Jahre gekommenen und sehr vergammelten Bahnhofsgelände mit Halle und Passerelle finden sie die Schauplätze für eindrückliche Bilder. Unforciert, selbstredend sozusagen, ist in Mussorgskis Blick auf «sein» Russland, das er im alten sah, auch das heutige zu erkennen.

Die Hauptstärke der Inszenierung liegt aber in der formidablen Besetzung durch grosse Sängercharaktere, die von der Opernchefin Laura Berman in den Westen geholt wurden: Vladimir Matorin gibt den Strelitzenführer Iwan Chowanski als Machtprotz mit Bassgedröhn fast schon komödiantischen Zuschnitts, Dimitry Ulyanov den Führer der Altgläubigen Dossifei mit seriöser Bassgrandezza von gefährlicher Suggestion. Mit herrischer tenoraler Leidenschaft gestaltet Dmitry Golovin glänzend die dritte der egomanischen Figuren, die alle Russland retten wollen. Die hitzige Szene ihrer Zusammenkunft ist ein Höhepunkt der Aufführung.

Format und Farbigkeit

Für weitere sorgen Jordanka Milkova als zwielichtige Prophetin und Eifersuchtsdramatikerin mit funkelndem Mezzosopran und der Bariton Pavel Yankovsky als Intrigant Schaklowity.

Dass Mussorgski-Affinität nicht eine Frage der Herkunft zu sein braucht, zeigt sich aber auch: Rolf Romei als Andrei Chowanski, Karl-Heinz Brandt als Schreiber, Betsy Horne als Emma und Bryony Drewer halten profiliert mit, und da sind nicht zuletzt die Chöre des Basler Theaters, die mit der ganzen Palette vom Volkslied bis zum Hymnus das zeitlose, allem ausgelieferte anonyme Kollektiv vertreten. Für Intensität bis zur Überhitzung, die auch Gefährdung der Koordination bedeuten konnte, aber auch Format und Farbigkeit der Aufführung führte Kirill Karabits Bühne und Orchester souverän durch die Aufführung.