Tobias Gerber, Neue Zürcher Zeitung (08.12.2015)
Christoph Marthaler inszeniert Rossinis «Il Viaggio a Reims» in Zürich
Das gemeinsame Haus Europa und seine Bewohner sind ein Fall fürs Sanatorium, glaubt man der Regie – wirklich ist es eine kuriose Truppe, die sich hier auf der Bühne der Zürcher Oper versammelt.
Wären sie Zeitgenossen, könnte man fast vermuten, dass Gioachino Rossini sein «Il Viaggio a Reims» für den Regisseur Christoph Marthaler geschrieben hätte. Das einaktige Werk – übrigens die letzte italienischsprachige Oper Rossinis – führt eine bunt gemischte Gesellschaft in einem Kurhotel in der französischen Provinz zusammen. Von dort kommen die versammelten Damen und Herren nicht mehr weg, da für die geplante Weiterreise zur Krönung Karls X. in Reims angeblich keine Pferde zur Verfügung stehen.
Gestrandet im Nirgendwo, vom erzwungenen Stillstand zur Gemeinschaft und zum gleichen Schicksal verdammt, entfalten die Protagonisten in fortlaufenden kleinen Episoden ein Tableau an menschlichen Regungen und zwischenmenschlichen Bestrebungen, an kulturellen Eigenarten und nationalen Selbstvergewisserungen. Denn nicht nur sind die privaten Beziehungen der dreizehn Hauptfiguren offenkundig vorbelastet und teilweise schwer durchschaubar – die exaltierte Schar setzt sich auch noch aus Vertretern aller Länder und Nationalitäten Europas zusammen: eine «Europäische Gemeinschaft», die bei Marthaler selbstredend jeder harmonischen Einheit entbehrt und deren Beschwörungen nationaler Zugehörigkeit die Konstruktionen sowohl der Union wie der nationalstaatlichen Identitäten zusehends bröckeln lassen.
Stillstand und Europa
Das sind zwei von Marthalers Ur-Themen, die er bei Rossini (wieder)findet, und mit gewohnt charakteristischer Handschrift nimmt er sich ihrer in dieser Zürcher Inszenierung an. Ebenso unverkennbar zeigt sich der von Anna Viebrock gestaltete Bühnenraum, eine Art Kurhotel. Ein Ort, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint: Warteraum für eine Gemeinschaft, an deren friedlichem Fortbestand doch permanent der Zahn der Zeit nagt.
Ausgeprägt sind die zahlreichen Charaktere, doch weniger ihr teilweise ziemlich oberflächliches, ja närrisches Innenleben kehrt Marthaler hier zwischen Swimmingpool und Kardiologie-Station nach aussen in die Hör- und Sichtbarkeit – stärker interessiert er sich für das Gewollt-Konstruierte in den Verhältnissen, das durchaus schmerzhafte Aufeinanderprallen von Interessen und die mit ihnen gekoppelten Leidenschaften.
Dafür bietet ihm Rossinis komische Oper einen optimalen Boden, zumal die affektbeladene Musik immer wieder in grotesken Kontrast zum Text und häufiger noch zum szenischen Geschehen gerät. Die Komik wird hierbei freilich zu einem Mittel der Reflexion, Affekt und Emotion erscheinen übersteigert und ins Absurde geführt. Der Regisseur trägt gerne dick auf, sucht ständig den sch(m)erzhaften Bruch oder die lachhafte Entlarvung. Das gelingt ihm in überraschenden Verdichtungen, etwa zum jubelnden Schlusschor hin, wo am Ende des Stücks die Protagonisten aus dem Unbeständigen und Doppelbödigen heraus plötzlich doch noch zu einer Art von musikalischer Einheit finden – die dann aber natürlich wieder nur auf tönernen Füssen steht.
Starkes Ensemble
Dass dieses Spiel funktioniert, gerade angesichts der teilweise sehr langen und hochvirtuosen musikalischen Nummern des Stückes und ungeachtet einiger ausufernder Kalauer aufseiten der Regie, verdankt die Produktion einem stark besetzten Sängerensemble.
Erquickend die Sopranistin Rosa Feola, die als «römische Improvisationskünstlerin» Corinna zwischen Leidenschaft und Pose balanciert und gemeinsam mit dem schlitzohrigen Cavalier Belfiore (Edgardo Rocha) im Duett die Bedeutung des Gesagten musikalisch verspielt infrage stellt. Nahuel di Pierro als englischer Oberst Lord Sydney gefällt mit der nonchalanten Tapsigkeit eines heimlich Verliebten, Scott Conner als Don Profundo, der – was er auch stimmlich unterstreicht – um Ordnung (oder zumindest ihre Behauptung) bemüht ist, dabei aber, wie einst Ulrich Mühe in dem Stasi-Film «Das Leben der Anderen», nicht einmal vor dem Einsatz zweifelhafter Abhör- und Überwachungsmethoden im Oberstübchen zurückschreckt.
Für Glanzpunkte sorgen Javier Camarena als Conte di Libenskof und Anna Goryachova als Marchesa Melibea. Camarena zeugt mit seinem hellen, ansprechenden Tenore di Grazia von den Wirbeln, in denen er zwischen Affekt und Selbstbehauptung dreht, und sorgt damit für Schmunzeln – nicht ohne Sorge und Mitgefühl; Goryachova begeistert nicht nur im Duett mit Camarena durch Virtuosität und eine weiche, klangvolle Stimme. Sie bringt die rechtschaffene Melibea facettenreich auf die Bühne.
Aus dem Orchestergraben liess an der Premiere Maria Goldschmidt mit einem klangvollen und feinen Flötensolo aufhorchen. Die Philharmonia Zürich sorgte unter der Leitung von Daniele Rustioni für ein stabiles und agiles musikalisches Fundament.