Hotel Europa

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (08.12.2015)

Il Viaggio a Reims, 06.12.2015, Zürich

Rossinis höchst seltsame Oper «Il viaggio à Reims» ist wie geschaffen für Christoph Marthaler. Seine schön schräge Inszenierung am Zürcher Opernhaus erntete Ovationen – und Buhs.

In Christoph Marthalers Pariser «Traviata» luden die Partygäste den Dienstboten einst Mäntel auf, bis diese unter der Last zusammenbrachen. In Rossinis «Il viaggio à Reims» nun werden Mäntel verteilt und angezogen – man versucht es wenigstens. Eng aneinandergekuschelt winden sich die Protagonisten in Pelz und Stoff, streicheln den Ärmel, nein, das ist der falsche. Auch der nächste passt nicht, Leopardenmuster ist eher für Damen. Und wie kommt es, dass plötzlich zwei Personen in einem Mantel stecken? Also wieder raus, irgend­wann klappts schon.

Die Szene spielt eigentlich nur am Rande des Geschehens. Aber schöner lassen sich die Unbehaustheit, das gesellschaftliche Eingezwängtsein und die Sehnsucht nach Wärme, die diese Figuren umtreiben, nicht auf den Punkt bringen. Und dass sie ihre richtigen Mäntel dann eben doch nie finden, passt exakt zum Stück: Denn hier reist keiner ab.

Blatter wird abgehängt

Es ist eine seltsame Geschichte, die Rossini 1825 zur Krönung des französischen Königs Karl X. vertont hat. Adlige aus ganz Europa treffen sich da in einem Kurhotel und wollen weiterreisen zur Feier in Reims; aber es sind keine Pferde da. Also sitzen sie fest, verlieben sich ein wenig, streiten dann wieder und singen viele, viele hoch virtuose Arien dazu.

Respektive: Arien-Parodien. «O grausames Schicksal!», ruft der Baron von Trombonok, als er das Fehlen der Pferde vermeldet – in einem Tonfall, der in der Oper sonst zumindest eine tödliche Intrige ankündigt. Auch sonst ist die Musik, gelinde gesagt, überdreht: Die Koloraturen sind immer einen Tick zu artistisch im Verhältnis zu ihrem Anlass; die Liebe wird so plötzlich und emphatisch besungen, dass nicht einmal die Sängerin daran glauben kann; und wenn einer eine «Synkope» diagnostiziert, also eine Ohnmacht, wissen die anderen sofort Bescheid und zitieren synkopisch rhythmisierte Stücke von Mozart, Haydn, Beethoven.

Sie tun es im einstigen Bonner Kanzlerbungalow, den Anna Viebrock für ihr Bühnenbild neu zusammengesetzt hat. Der Bunker ist dabei sinnigerweise zum Estrich geworden, darunter finden sich eine Halle, ein Mini-Schwimmbad, viele Türen, ein unberechenbarer Wasserhahn. Ein ebenso öffentlicher wie privater Raum ist so entstanden; eine Klinik könnte es sein, ein Hotel oder auch ein Kongresszentrum für europäische Abgeordnete. Die Personen tragen weisse Kittel oder Kostüme, die man aus Buñuel-Filmen oder der «Tagesschau» kennt.

Gemälde von einstigen und heutigen Machthabern stehen an den Wänden, man stellt sie um, probiert sie aus: Tony Blair ist da oder Bischof Haas, und zweifellos ist es kein Zufall, dass Roger Köppel gleich neben Viktor Orbán platziert wird. Auch Sepp Blatter hat ein Plätzchen in dieser Galerie, er wird aber abgeräumt: zur Melodie von «God Save the King», die Rossini mit allerlei anderen Hymnen zu einer kuriosen Festmusik arrangiert hat.

Tranquilizer für die Gäste

Ja, Marthaler und Rossini passen bestens zueinander. Zwar warten die Figuren im Stück nicht ganz so stoisch wie sonst in den Marthaler-Projekten, Anna Viebrock spricht von einem «hyperaktiven Warten». Aber wie das, was Rossini sie tun lässt, keinerlei Folgen hat für die Handlung; wie diese Handlung sowieso keinen Sinn ergibt, weil schon vor dem Malheur mit den Pferden ein Arzt den Gästen ihre Reisetauglichkeit abgesprochen hat; wie damit unklar wird, wer sie sind, wo sie sind, was sie tun dürfen oder müssen oder nicht dürfen: Das ist Marthaler avant la lettre.

Dieser setzt dann hier und dort noch einen drauf, manchmal auch einen zu viel. Wenn etwa die modebewusste französische Contessa in Ohnmacht fällt, weil ihre Koffer nicht ankommen, eilen die Ärzte einem anderen zu Hilfe; und dass es ein Hütchen ist, das sie wieder zu sich kommen lässt, muss man im Programmheft nachlesen. Aber das macht fast gar nichts, es kommt ja gleich die nächste Szene. Und die Musik ist wirklich hübsch.

Diese Musik wird einmal mehr einem sehr jungen Dirigenten anvertraut: Dem 32-jährigen Italiener Daniele Rustioni, der in den letzten Jahren eine steile Karriere gestartet hat und in dieser Rossini-Partitur vor allem ein gutes Gefühl fürs Timing zeigt. Er lässt sich mit einer hochmotivierten Philharmonia und dem Hammerklavierspieler Enrico Maria Cacciari in jedem Moment auf die Inszenierung ein, beschleunigt und stoppt, lässt die Klänge herausknallen und abbrechen und kehrt auch mal eine musikalische Bedeutung ins Gegenteil um, wenn Marthaler das in der unter Tranquilizer gesetzten Zornesarie so will. Dass der Klang zuweilen ein wenig robust wirkt, ist zweifellos gewollt: Um Subtilitäten geht es hier ja nicht.

Der Russe ist ein Mexikaner

Die Sängerinnen und Sänger liefern sie trotzdem, mit vokaler Leichtigkeit und einer Zusammensetzung, die Rossinis Vorgabe des internationalen Personals noch potenziert. Der Mexikaner Javier Camarena gibt den Russen mit höhensicherem Tenor und viel Sinn für lakonische Komik. Die Russin Anna Goryachova verkörpert die polnische Marchesa mit einer lodernden Stimme, der man in jedem anderen Stück alles glauben würde. Der Amerikaner Scott Conner listet als Italiener in einer urkomischen Schnellsprecharie die Besitz­tümer der Gäste auf. Die Französin dagegen – auch das darf man als Pointe verbuchen – ist tatsächlich eine Französin, die überaus charmante und für einmal wasserstoffblonde Julie Fuchs.

Und so weiter: Das Stück hat keine eigentlichen Hauptrollen, dafür dreizehn ungefähr gleich grosse Nebenrollen und ein paar Minipartien. Auch das gehört zu den Kuriositäten dieses Gelegenheitswerks, das Rossini selbst als solches verstanden hat; rund die Hälfte der Arien hat er später wieder verwertet in der komischen Oper «Le Comte Ory», welche die Zürcher vor ein paar Jahren mit Cecilia Bartoli und Javier Camarena in den Hauptrollen zum Lachen gebracht hat.

Auch in «Il viaggio a Reims» wird viel gelacht; still wirds erst zuletzt, beim unverhofft aktuell gewordenen «Viva la Francia». Denn auch wenn die Sänger keine Marthaler-Vertrauten sind, auch wenn sich nicht einmal alle gut kennen (weil das Zürcher Ensemble mittlerweile zu klein ist, um ein solches Ensemble-Stück aus eigenen Kräften zu besetzen): So passen sie doch bestens zusammen und in diese Inszenierung, und sie lassen sich mit einigem sportlichem Talent ein auf die Ticks und Aktionen der Schauspieler um Marc Bodnar, Raphael Clamer und die Choreografin Altea Garrido, die Marthaler mitgebracht hat.

Dass am Ende im Jubel auch ein paar Buhs auszumachen waren, konnte man als Marthaler-Folklore abbuchen. Und wenn man danach sah, wie sich das Publikum zu den Garderoben ellbögelte, um möglichst schnell den (richtigen!) Mantel zu ergattern, konnte man nur noch nicken: Doch, nach seinem nicht ganz gelungenen Opernhaus-Debüt mit dem Händel-Projekt «Sale» hat der Regisseur diesmal ins Schwarze getroffen.