Roger Cahn, Deutschlandradio Kultur (07.12.2015)
Christoph Marthaler versetzt Rossinis Oper "Il viaggio a Reims" in die Jetzt-Zeit der Flüchtlingsbewegungen und des IS-Terrorismus. Doch der sonst so fantasievolle Regisseur liefert künstlerisch ziemliche Magerkost - und das Ensemble kämpft mit Rossinis Tonsetzung.
Es ist verständlich, dass ein Regisseur wie Christoph Marthaler in einer Welt, die von Flüchtlingsdrama und IS-Terrorismus gezeichnet ist, kein Bild von Eintracht und Liebe malen möchte. So verwandelt er Rossinis Nobelherberge "Zur Goldenen Lilie", wo sich eine multikulturelle Elite zur Reise an die Krönung des neuen Königs nach Reims versammelt, in eine "Klinik für Europapatienten".
Insassen und Personal sind denn auch typische Marthaler-Figuren: Sie machen Unsinn, sie schlottern neurotisch, sie fallen um und stehen gleich wieder auf und sie singen – für einmal Rossini.
Problematischer Schluss
Soweit – so gut. Unbeantwortet bleibt die Frage, wie sich diese Welten künstlerisch auf einen Nenner bringen lassen. Dafür bietet der sonst so fantasievolle Regisseur ziemliche Magerkost. Gewisse komödiantische Effekte oder Slapstick-Einlagen sind echt lustig, verpuffen aber sogleich wieder wie kurz aufblitzende Sterne in einem Feuerwerk.
Problematisch vor allem der Schluss der Oper: Rossinis Jubelgesang mündet auf der Bühne in einer totalen Katastrophe – ein Flugzeug (die Kutsche, welche nicht im Hotel ankommt?) ist abgeschossen worden. Technisch löst Marthaler dieses Dilemma so, indem er verkündet: "Libretto ausgeschaltet."
Die prickelnde Musik dümpelt vor sich hin
Musikalisch beginnt die Aufführung unkontrolliert und undifferenziert. Zu viel Aktionismus auf der Bühne erschwert den Kontakt zum Orchestergraben. Dirigent Daniele Rustioni ist voll damit beschäftigt zu koordinieren – die prickelnde Musik dümpelt so vor sich hin. Im zweiten Teil, wenn die Sänger etwas ruhiger agieren dürfen, hört man dann doch noch so etwas wie Delikatessen "à la Rossini".
Das grosse Ensemble (13 Hauptrollen!) bewältigt die enorm schwierige Partitur teils mit Brio (vor allem die Damen), teils spürt man (vor allem bei den Herren) den Kampf und Krampf der Stimmen mit Rossinis brillanter Tonsetzung. Fazit: Etwas mehr Rossini und dafür etwas weniger Marthaler wäre mehr gewesen.