Polit-Satire mit grosser Fallhöhe

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (08.12.2015)

Il Viaggio a Reims, 06.12.2015, Zürich

Christoph Marthaler zeigte am Sonntag im Zürcher Opernhaus Rossinis ­komische Oper «Viaggio a Reims». Dabei sparte er nicht mit Gags – und schaffte es zudem, den Einbruch des realen Terrors in Paris auf die Bühne zu bringen.

Der Anfang ist typisch Marthaler: Eine stumme Gouvernante dirigiert heftig gestikulierend das Dienstpersonal ihres ­Hotels, während der einzige Sound vom rhythmischen Frühstücksei-Klopfen der Gäste kommt. Dann Rossini: Ouvertüre. Im Folgenden hält sich die Inszenierung an die Partitur, die Gioachino Rossini 1825 zur Krönung von Charles X. für das Théâtre Italien in Paris komponiert hatte, dem er als Direktor vorstand.

Für das Bühnenbild in Zürich hat sich Anna Viebrock ein real existierendes Gebäude zum Vorbild genommen, den sogenannten Kanzlerbungalow in Bonn aus den Sechzigerjahren. Der Bau diente als Wohnraum des BRD-Bundeskanzlers und war gleichzeitig Ort verschiedener politischer Verhandlungen – ein Schaltzentrale der Macht mit Schwimmbad und Gemälden wichtiger Politiker an den Wänden. Neben deutschen und europäischen Grössen haben sich auch ein paar Schweizer darunter verirrt: König Sepp Blatter zum Beispiel oder der Nationalrats-Frischling Roger Köppel.

Mit der typischen Präzision

Hier spielt Rossinis komische Oper um eine bunt zusammengewürfelte Reisegesellschaft, die auf dem Weg zu den Krönungsfeierlichkeiten in Reims gestrandet ist. Pferde sind ausgebucht, man kommt nicht weiter, so feiert man halt selber und gerät sich übers Kreuz ein bisschen in die Wolle. Marthaler und Viebrock haben diese Szenerie etwas umgedeutet, schildern nicht ein Hotel, in das die Gäste freiwillig einziehen, sondern eine Art Sanatorium, in dem die Ärzte bestimmen, wer gehen darf. Oder eine Klinik für Schönheitsoperationen. Oder auch ein abgelegenes Luxushotel, das sich sehr gut dafür eignet, abseits von Strassenprotesten G-7-Treffen durchzuführen.

Es wird weniger geschlafen als auch schon bei Marthaler, immer wieder aber finden sich die für ihn typischen sinnlosen Aktionen, die durch ihre verbissene Ernsthaftigkeit und das gekonnte Timing ihren eigenen Witz erhalten: eine gekonnte Satire auf europäische Politiker oder medizinverliebte Ärzte, abhörwütige Geheimagenten oder selbstverliebte Modetussis. Für einmal stören solche Aktualisierungen kein bisschen, weil schon Rossinis Original der Grenze zur Parodie entlang schrammt. So füllt Marthalers szenischer Humor mühelos, aber – wie immer bei ihm – mit grosser Präzision und einer untrüglichen Musikalität diesen Abend aufs Vergnüglichste.

Bis kurz vor Schluss, denn es gibt eine unglaubliche Fallhöhe in dieser Inszenierung: Drei Stunden lang wird gewitzelt, jagt ein Gag den nächsten, so aufgefüllt ist die szenische Pointendichte, dass man gar nicht alles mitbekommt, was Marthaler da auf der Bühne anrichtet. Aber plötzlich, nach der harfenbegleiteten Arie der Dichterin Corinnan – ein Extempore von zeitloser Schönheit und raumgreifender Präsenz, herausragend gesungen von Rosa Feola – erstehen zu den seltsam altmodischen, madrigalesken Klängen, mit denen Rossini die feierliche Beschwörung der königlichen Tradition Frankreichs zelebriert, die Bilder vom 13. November dieses Jahres aus Paris wieder vor unseren Augen: Die Trikolore zerfetzt, die kleinen gelben Hütchen der Spurensicherung und Menschen auf dem Bühnenboden, die für einmal bei Marthaler nicht schlafen. Die finalen «Viva la Francia»-Chöre erhalten so ganz neue Bedeutung, und die herumstehenden Fussball-Pokale offenbaren einen bangen Blick in die Zukunft.

Zürcher Ensembles und Gäste

Marthaler arbeitete diesmal nicht mit seiner «Familie». Die nicht weniger als 17 Solopartien besetzte das Opernhaus aus seinen Ensembles und mit hochkarätigen Gästen wie dem Tenor Javier Camarena. Wie sie sich teilweise hervorragend (Liliana Nikiteanu) in diese besondere Theater-Ästhetik einfühlen konnten, spricht für Marthalers Motivationsfähigkeit.

Weniger bestechend geriet die musikalische Seite dieser Produktion. Der junge Dirigent Daniele Rustioni gab viel Rossini-Brio vor, erhielt aber vor allem ein Nachlassen in der Präzision und aus dem Graben einen oft etwas pauschalen Klang, dem jene knackige Präzision fehlte, die Rossinis Nummern so unwiderstehlich machen kann. Camarenas Tenor zeigte sich in beneidenswerter Verfassung, aber er neigte auch oft zu vokalen Kraftmeiereien, Julie Fuchs zündete virtuose ­Koloraturfeuerwerke, Scott Conner brillierte im Parodieren von sprachlichen Akzenten.