Fehlen nur die Schlafschleifen

Herbert Büttiker, Der Landbote (08.12.2015)

Il Viaggio a Reims, 06.12.2015, Zürich

«Il viaggio a Reims» ist musikalisch ein einziger Hit, aber eine seltsame Oper. Noch seltsamer macht sie Christoph Marthalers Inszenierung, der das grossartige Rossini-Ensemble in die Bonner Kanzlervilla schickt.

Ein Kurhotel, eine Gesellschaft unterwegs zu Krönungsfeierlichkeiten, die hier festsitzt, weil für die Weiterreise keine Pferde da sind, eine Reihe von Episoden, die sich nur lose zur Handlung fügen, Figuren, die sehr präsent sind, aber kaum eine Geschichte haben, und ein musikalisches Best-of-Programm – Christoph Mar­tha­ler hätte das alles erfinden können, wie er zuletzt im Opernhaus zu einem Pasticcio von Händel-Arien einen Abend unter dem Titel «Sale» gestaltet hat.

Jetzt überrascht ein hervorragendes En­sem­ble mit schönstem Rossini in allen Varianten; Arien, Duette, ein Sextett und gar ein famoses Stück für 14 Stimmen ist dabei, und dazu gibt es den Slapstick, die Ticks und Gags, den Leer- und Amoklauf, die Schlaufen und Fallgruben, die bekannter Marthaler sind. Anna Viebrock hat ihm dafür in Anlehnung an die Kanzlervilla in Bonn einen vielfältig anregenden Spielplatz geschaffen, Schwimmbassin und Bunkeranlage inklusive. Private Eifersuchtsszenen und offizielle Europapolitik gehen im komplexen Raumgefüge ineinander über. Das Sextett ist auch ein Ballett der Rednerpulte.

Schlicht zu rasant

Marthalers Handschrift kann man mögen oder auch nicht, es ist ja ein müdes Theater auch im Spastischen, die Hemmung ist die ganze Bewegung, und der Fokus auf den sängerischen Auftritt hält meist keine Arie lang. Augenzwinkernd bedauert der Regisseur der Langsamkeit im Interview, dass ihm Rossini keine Gelegenheit für ein paar Schlafschleifen gelassen habe: «Dafür ist seine Partitur schlicht und ergreifend zu rasant.» Es gibt aber auch ein paar weitere Aspekte, unter denen Inszenierungen im Stück Komik, Witz und Burleske schon anderswie und lustiger zum Blühen gebracht haben – sicher auch bei der Uraufführung, mit der Rossini 1825 mehrere Absichten verfolgte.

Als neuer Direktor des Théâtre-Italien leistete er seinen Beitrag zu den Krönungsfeierlichkeiten Karls X., gleichzeitig musste er auch seinem Ruf als Weltmeister der komischen Oper gerecht werden, was er mit einer Parodie der Oper einlöste, und offensichtlich legte er es dar­auf an, auch eine ganze Armada des italienischen Belcanto aufzufahren.

Und eine solche haben wir jetzt auch im Opernhaus: für die Eifersuchtsszene und das Versöhnungsduett des Conte di Libenskof und der Marchesa Melibea den Tenorglanz von Javier Camarena, und die glutvollen Mezzosoprantöne von Anna Goryachova; für das ach so tragische Schicksal der modebewussten Contessa di Folleville den empfindsamen Sopran von Julie Fuchs, der auch fantastisch umschlägt in den koloraturenreichen Jubel, wenn einer der verlorenen Hüte (hier ein undefinierbares Etwas in einer Plastiktüte) wieder auftaucht.

Dermassen im Zwielicht hochkarätiger musikalischer Emotion und Parodie stehen auch der von unerfüllter Liebe bewegte Lord Sidney, den Nahuel Di Pierro mit pastosem Bariton verkörpert, romantisch umweht von einer virtuosen Flöte (zauberhaft: Maurice Heugen), oder der Cavaliere Belfiore, der kläglich scheiternde Don Juan, den Edgardo Rocha mit viel Sentiment und geschmeidiger Höhe gibt.

Lyrischer Zauber

Don Profondos Plapper-Arie ist bei Scott Corner ein köstliches Sprachsalatbuffet: Rossini tischt da seinen letzten reinen Buffo-Bass auf. Ihm zur Seite stehen die eher melancholische Hausherrin Madama Cortese (Serena Farnocchia) und die eher entnervte Hausdame (Liliana Nikiteanu), und, ebenfalls profiliert, etliche weitere: 18 Solisten sind aufge­boten.

Über allen aber thront die poetische Figur der geheimnisvollen Improvisationskünstlerin Corinna, die romantisch und seherisch zur Harfe singt. Ihr gibt Rosa Feola den ganzen lyrischen Sopranzauber, weitatmig und innig im schwebenden Legato, berührend in höchste Regionen steigend – man spürt, dass Rossini mit ihr und sie mit ihm allen Buffo-Geist abstreift und Humanität bekenntnishaft anvisiert.

So erstaunlich frivol Rossini mit seinem Huldigungswerk die Gesellschaft – immerhin königliche Gäste – auf die Schippe nahm und mit Liedern und Nationalhymnen die erhabene Politsphäre parodierte, so klug setzte er das strahlende Gegenlicht einer Musik und Figur jenseits der Ironie dagegen – irritierend nahe freilich auch der realen Politik jener Zeit, wenn die Sängerin die Hoffnung auf ein neues Goldenes Zeitalter mit der Aussicht auf den Sieg über den türkischen Halbmond verbindet.

«Librettostörung»

Irritierend ist das vor allem für eine Inszenierung, die auf gegenwärtige Euro- und Europapolitik zielt und statt ans Jubelfinale für den Monarchen an den Terror von Paris denkt. So werden nun eben Trümmerteile eines Flugzeugs hereingeschleppt, die Übertitelungsanlage meldet «Vorübergehende Librettostörung», und die Partygesellschaft drückt sich zum Schlusschor ängstlich in die Ecke, stimmig für sich, nicht für Rossini.

Für die «Freiheit der Fantasie, Freiheit des Denkens, ungebundene Darstellungslust, Spass, Lachen, Berührtsein» plädiert das Opernhaus in seinem Magazin gegen den Terror. Ob die Inszenierung mit ihrer Librettozensur am Ende all das einlöst, mag man fragen. Musikalisch wurde die Aufführung von Daniele Rustioni, ohne das Brio zu forcieren, mit durchsichtigem Spiel, mit dezidiertem Griff im Fluss gehalten, und sie kam dem spürbar nach, was – aus aktuellem Anlass ebenfalls im Magazin zitiert – Leonard Bernstein sagte: «Unsere Antwort auf die Gewalt ist folgende: Wir werden die Musik noch intensiver, noch schöner und hingebungsvoller spielen als jemals zuvor.»