Bruno Rauch, Neue Luzerner Zeitung (09.12.2015)
Im Opernhaus hat Christoph Marthaler Rossinis Oper «Il viaggio a Reims» inszeniert. Und eine Diagnose über Europas aktuellen Zustand gewagt.
Gioachino Rossini komponierte die 1825 in Paris uraufgeführte Oper «Il viaggio a Reims» mit Bezug zu einem politischen Anlass: der Krönung Karls X. im September 1824.
Er selbst bezeichnete das Werk mit kluger Ironie als Kantate; heute würde man es wohl Revue oder Show nennen – zu dürftig, zu banal, zu lose geknüpft ist der Handlungsfaden: Eine Gesellschaft aus betuchten Gästen aus ganz Europa macht Station in Plombières – einem Badekurhotel – vielleicht ist es auch eine Reha-Klinik oder eine Beautyfarm, jedenfalls ein Tollhaus.
Aus unerfindlichen Gründen sind keine Pferde aufzutreiben, um die geplante Weiterfahrt zu den angesagten Feierlichkeiten fortzusetzen; man sitzt wider Willen fest. Liebesgeplänkel und Eifersüchteleien, modische, hypochondrische und schöngeistige Marotten beleben die Wartezeit. Und lähmen sie mitunter gehörig!
Oper ad absurdum?
Es scheint, als hätten Komponist und Librettist maliziös beabsichtigt, die Kunstgattung Oper und deren artifiziell-virtuose Arien und mitunter platten Handlungen ad absurdum zu führen – mit 13 Protagonisten, 5 kleinen Rollen und Chor, die sich mit disparaten komischen und absurden Episoden profilieren, ohne Kontur und Tiefe zu gewinnen. Das Ganze serviert als Assortiment musikalischen Schaumgebäcks.
Diese pasticcio-artige Anlage entspricht Christoph Marthaler, dem Spezialisten für szenische Kapricen, darf er hier doch seiner schweifenden Fantasie und skurrilen Bildsprache ungebremst frönen.
Absurde Regie?
Er nimmt dabei die kriselnde Situation eines auseinanderdriftenden Europas aufs Korn – wobei gleich festzuhalten ist, dass das musikalische Zusammenspiel weit besser klappt als die szenische Auslegung – davon später. Und ob die Trümmer einer Flugzeughavarie eine passende Anspielung sind, bleibe dahingestellt.
Wie immer spaltet Marthaler die Meinung des Publikums in «hingebungsvolle» Zustimmung und «humorlose» Ablehnung. Wie gehabt, greift er zu den «immer wieder erfrischend witzigen» oder, je nach Optik, «ewig gleichen langweiligen» Slapsticks, Gesten und Verrenkungen – als da sind offener Hosenladen, Fallsüchtige, trippelnde Tussen, sich am Boden wälzende Menschenknäuel.
Das Bewegungsarsenal ist unerschöpflich und doch sattsam bekannt. Es schnurrt mir der gewohnten Perfektion ab, musikalisch choreografiert und doch nicht mit dem Geschehen verzahnt. Wo es im Libretto – selten genug – tatsächlich zu einer emotionalen Begegnung kommt, bleiben die Protagonisten in typisch marthalerscher Manier einander fremd und unbeteiligt.
Umso aktiver dagegen wuselt das Treiben rundherum: Türen und Vorhänge werden permanent auf- und zugemacht, Erste Hilfe geleistet, zeremonielle Akte vollzogen, Aquafit betrieben ...
Ja, Bühnenbildnerin Anna Viebrock hat tatsächlich einen Pool in ihr Bühnenbild integriert, zu dem sie sich von den immensen Fensterfronten und braunen Holzwänden des Bonner Kanzlerbungalows hat inspirieren lassen.
Peinliche Badehosen
Gleichzeitig auch Kostümbildnerin, operiert sie mit dem bekannten Mix aus peinlichen Badehosen, grausigen Krawatten, Schlaghosen und Schuhen mit hohen Absätzen für kleinwüchsige Wichtigtuer – alles ein bisschen Vintage, alles muffelig und schräg. Frisch, spritzig und unverbraucht dagegen klingts aus dem Orchestergraben. Der erst 32-jährige Daniele Rustioni leitet die Philharmonia mit Schwung, Präzision und Sinn für die klangliche Delikatesse.
Unter der Vielzahl an brillanten Sängern – viele davon aus dem Internationalen Opernstudio – seien die lyrische Wärme von Rosa Feola, die funkelnden Koloraturen von Julie Fuchs und der wunderbar gerundete Mezzo von Anna Goryachova genannt. Und auf der Männerseite die Tenöre Javier Camarena mit glanzvoller Höhe und Edgardo Rocha mit virilem Schmelz sowie der zungenflinke Bass von Scott Conner.
Und trotzdem: Marthaler muss am Schluss neben Ovationen auch enthusiastische Buhrufe einstecken.