Herbert Büttiker, Der Landbote (21.12.2015)
Das Stück hat eine starke Botschaft, eine spannende Geschichte und ist ein Riesenangebot an alle Bühnenkünste – eine in jeder Hinsicht begeisternde «West Side Story» im Theater St. Gallen.
Statt die alten Geschichten in neue Kostüme zu stecken, erfanden Leonard Bernstein und seine Autoren «Romeo und Julia» gleich neu, ihre Welt und ihre Zeit vor Augen und ihren Klang in den Ohren: Aus den Capulets und den Montagues wurden die Sharks und die Jets, die rivalisierenden Gangs der neuen Einwanderer aus Puerto Rico und der sozusagen Edel-Weissen, die für sich beanspruchen, richtige Amerikaner zu sein – wie aktuell das alles ist und wie wichtig die Botschaft der Liebe und Freundschaft über alle Grenzen.
Die Botschaft der «West Side Story» ist kein moralischer Zeigefinger, sondern Musik, innigste Melodik, die sich ins Gedächtnis schleicht und festsetzt – vor allem wenn sie so einnehmend rein und lyrisch kraftvoll zügig interpretiert wird wie von den beiden St. Galler Protagonisten (die Rede ist von der zweiten Aufführung der neuen Produktion am vergangenen Samstag): Wie Lisa Antoni und Andreas Bongard die junge Liebe, strahlend und scheu, kindisch überschwänglich und wundergläubig auf den Balkon aller Balkone zaubern, ist so grossartig wie die Kargheit und beklemmende Stille, mit der sie die Todesszene gestalten.
Glänzende Show
Tonys «Something’s Coming» und «Maria» sind in einen Bogen gespannt, eine grosse Arie, Marias «I Feel Pretty» ist so präzis und humorvoll verzückt gesungen und gespielt, das schönste Porträt eines verliebten Mädchens, das man sich denken kann, und da bleibt noch viel mehr haften, «One Hand, One Heart» etwa, die berührende Ironie des Hochzeitsspiels.
Die Liebe, die da blüht, ist jenseits der Sentimentalität, ihre Chance ist gleich null, aber sie ist alles. Echt macht sie auch die Inszenierung von Melissa King, die sie auf eine dunkle, metallisch kalte Bühne (Knut Hetzer) und in eine raue Menschenwelt von explosiver Aggressivität stellt – bis zum schockierenden Höhepunkt der Vergewaltigungsszene, die Sophie Berner grossartig spielt: Die Regisseurin, die auch für die Choreografie verantwortlich ist, beherrscht mit ihrem Team die Gratwanderung meisterhaft, ein bis in die Fingerspitzen ausgefeiltes Bewegungstheater als ungeschönte menschlich unmenschliche Realität erscheinen zu lassen und umgekehrt: Die Kampfszenen, die Aufmärsche und das Imponiergehabe der Gangs sind auch, von der Bühne mit Glitzereffekten unterstützt, glänzend gemachte Show.
Geniale Mixtur
Erst recht sind Bernsteins vital-spritzige Tanz- und Ensemblenummern ein Vergnügen: Das temperamentvolle «America» der Shark-Girls mit der mit allen weiblichen Waffen gesegneten Anita (Sophie Berner) an der Spitze im Kontrast zur entsprechenden Nummer der Jets, deren Macho-Coolness Riff (Jörn-Felix Alt) souverän vorgibt. Zu erleben ist ein energievolles, rhythmisch präzises Musicalteam, das unter der Leitung von Stéphane Fromageot am Dirigentenpult gleichsam im Unisono mit dem jazzig erweiterten Sinfonieorchester agiert. Von ihm kommt alles à point, was Bernsteins geniale Mixtur aus Latinotänzen, Progressive Jazz, sinfonischer Farbigkeit und melodischer Süsse vorgibt.
Gesungen wird im englischen Original und gesprochen in einer deutschen Fassung, eine bewährte Praxis auch hier. Man mag zwar die Art, wie der deutsche Slang bemüht wird, als forciert empfinden, aber die Dialogdramatik hat ihre Schärfe und ihr ganzes Gewicht mit den Schauspielern David Steck (Doc), Max Gertsch (Schrank) und Romeo Meyer (Officer). Wie das Musical überhaupt die grosse Fusion aus Schauspiel, Tanz- und Musiktheater sein kann – dafür ist diese St. Galler «West Side Story» ein hervorragendes Beispiel, eine Attraktion und ein Muss über alle Sparten hinweg.