Kreuzfahrt ins Nirgendwo

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (26.01.2015)

Die Hamletmaschine, 24.01.2016, Zürich

Wolfgang Rihms «Hamletmaschine» am Opernhaus Zürich

Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert war in Zürich Wolfgang Rihms radikales Musiktheater «Die Hamletmaschine» zu erleben. Das Schlüsselwerk von einst wirkt heute allerdings zwiespältig.

Die Geschichte will erzählt sein. Zum Beispiel die des Prinzen Hamlet und seiner traurigen Braut Ophelia. Oder die jenes kleinen Landes, nennen wir es Dänemark, wo etwas faul ist im Staate. Den Dramatikern der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts stand der Sinn freilich nicht nach Erzählen – gerade weil so viel faul war an den Zeitläuften. Altbekannte Handlungsmuster sollten deshalb aufgebrochen, die immer gleichen öden Ketten der Kausalität gesprengt werden. Sein oder Nichtsein: Wer wollte das noch ernsthaft fragen angesichts der völlig irrationalen Möglichkeit einer vieltausendfachen atomaren Zerstörung unserer Welt? Auf der Bühne entstand die Idee eines Theaters, das man heute das «postdramatische» nennt – eine Darstellungsform, in der wenig erzählt, noch weniger erklärt, aber trotzdem eine Menge geredet wird. Ein Initialtext dieses Theaters ist Heiner Müllers «Hamletmaschine», entstanden in einem kreativen Rausch, so will es die Legende, während einer einzigen Nacht im Jahr 1977. Danach war auf den Bühnen nichts mehr, wie es vorher war.

Schon wieder der Rauschebart

Der Komponist Wolfgang Rihm bekam Müllers «Hamletmaschine» schon bald nach Erscheinen in die Hände, und er erkannte bei der Lektüre etwas Entscheidendes: In diesem Metatext zu Shakespeares «Hamlet»-Tragödie, der selbst kaum noch Handlung transportiert und schliesslich sogar die Befreiung des Schauspielers aus seiner Rolle und von der Übermacht des Autors propagiert, lag eine Lösung für die Krise, in der sich das zeitgenössische Musiktheater seinerzeit befand. Noch dessen beste Vertreter, Hans Werner Henze etwa, hielten nämlich an der Literaturoper fest – einer Eins-zu-eins-Vertonung vorgefertigter literarischer Dramentexte mit klaren, geschlossenen Handlungsstrukturen. Rihm hingegen schwebte etwas grundlegend anderes vor: ein Totaltheater, durchaus in Berührung mit Wagners Idee des Gesamtkunstwerks, worin die Musik das Drama gleichsam aus sich selbst neu erschafft.

Rihms Vertonung, oder besser: seine umfassende Musikalisierung von Müllers «Hamletmaschine», 1987 am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt, ist deshalb ein Meilenstein der jüngeren Operngeschichte. Anders als Helmut Lachenmanns zehn Jahre jüngerem «Mädchen mit den Schwefelhölzern», dem Rihms Werk in vielerlei Hinsicht vorausgeht, steht der geschichtlichen Bedeutung der «Hamletmaschine» indes keine adäquate Rezeptionsgeschichte gegenüber: Auf die Mannheimer Premiere folgte noch im selben Jahr eine Produktion in Freiburg, zwei Jahre später inszenierte John Dew das Stück an der Hamburgischen Staatsoper. Der Rest war Schweigen. Sollte Rihms und Müllers kühner Wurf so rasch von ebenjenen Zeitläuften überholt worden sein, die das Stück einst hinterfragen wollte?

Dass die Zürcher Oper das Werk nun 26 Jahre nach der letzten Aufführung erneut zur Diskussion stellt, ist schon deshalb eine Grosstat – aus künstlerischer und repertoirepolitischer Sicht fraglos die wichtigste, wagemutigste Premiere der Zürcher Saison. Unterstreicht sie doch nicht zuletzt, wie sehr der amtierende Intendant Andreas Homoki gewillt ist, den unter seinem Vorgänger Alexander Pereira gepflegten Werkkanon behutsam bis in die Gegenwart zu erweitern. Mit der Frage nach der Gegenwärtigkeit der «Hamletmaschine» beginnt bei diesem Stück freilich die eigentliche Herausforderung.

Schon Heiner Müllers Text eröffnet durch seine überwiegend parataktische, also nicht mehr durch Logik oder den dargestellten Inhalt gelenkte Reihung von Sprachbildern ein weites Feld für szenische Aktionen und Assoziationen. Immerhin behielt Müller – und mit ihm später Rihm – eine unterschwellige Orientierung an der fünfaktigen Form des Shakespeare-Dramas und dessen wichtigsten Personenkonstellationen bei. Der Regisseur Sebastian Baumgarten bricht die Strukturen in seiner Zürcher Realisation nun noch weiter auf. Baumgarten ist als Künstler selbst umfassend in der ostdeutschen Theatertradition sozialisiert worden, durch Lehrer und Leitfiguren wie Ruth Berghaus und eben Heiner Müller. Kein Wunder, dass er die theatralen Mittel der Brecht-Tradition, etwa Verfremdung, Brechung und kritische Distanz zu Text und Rolle, virtuos beherrscht. Damit legt Baumgarten über den Sprachfluss des Textes eine weitere Bilderschicht, mit deren Hilfe er sich in wilden Sprüngen durch die jüngere deutsche Geschichte hangelt.

So finden wir uns zu Beginn wieder im Bauch eines Schiffes mit dem schönen Namen «Nessuno Secondo» (Bühne: Barbara Ehnes). Es ist das – am Ende erwartungsgemäss sinkende – gemeinsame Boot Europa, eine Mischung aus Kriegsschiff, Flüchtlingseiland und Arche Noah. Doch sogleich werden die Schotten eisern dichtgemacht, man beschäftigt sich lieber mit internen Problemen und gern auch mit den Gespenstern der Vergangenheit, die offenkundig als blinde Passagiere mit an Bord sind. Nicht Hamlets ermordeter Vater wird in der ersten Szene («Familienalbum») zu Grabe getragen, sondern – wieder einmal – der Philosoph Karl Marx, der recht unsanft im Kielraum des Schiffes landet. Dass der alte Rauschebart schon wenig später als lästiger, untoter Geist wiedererscheint, samt rotem «Kapital» unterm Arm, gehört zu den komischen Momenten der Aufführung. In dieser humorvoll-anarchischen Weise, die das postexpressionistische Wort-Pathos von Müllers Text nicht allzu ernst nimmt, hätte es weitergehen dürfen. Doch es bleibt nicht so lustig.

Schon im zweiten Teil, «Das Europa der Frau» betitelt, wird schweres Geschütz aufgefahren. Nicht genug damit, dass Müllers Ophelia hier den Spiess umdreht, indem sie aus ihrer Opferrolle ausbricht und zum Widerstand gegen die Verhältnisse aufruft – bei Baumgarten muss es die Terroristin Ulrike Meinhof sein, die am Tag ihres Selbstmords in Stuttgart-Stammheim Rückschau hält auf ihr «revolutionäres» Leben. Im dritten Teil, einem «Scherzo», hätte es dann wieder heiter werden können: Baumgarten beschwört Andy Warhols New Yorker «Factory» herauf, wo eine dionysische Schar zur Begleitmusik von immerwährenden Partys, Sex- und Drogenkonsum quasi nebenbei Kunst produziert (die heute Millionen kostet). Natürlich sind wiederum Marx und auch Lenin im Siebdruck zu haben, Warhols alias Ophelias Spiel mit Travestie und Geschlechteridentitäten bleibt allerdings gestelzt und ein bisschen bieder. Vollends unlustig wird es in den letzten beiden Teilen, wo zuerst eine wild gewordene Horde von «Pegida»-Demonstranten am deutschen Nationalfeiertag den insgesamt drei Hamlet-Darstellern den Garaus macht, bevor im letzten Bild eine Gruppe geifernder Amazonen in Guantánamo-Orange buchstäblich den Geist aus der Flasche lässt und die Europa-Arche flutet.

Böses Ende mit Amazonen

Dass man vor der Übermacht, aber auch der zitathaften Beliebigkeit der Bilder nicht alsbald kapituliert, ist der Intensität von Rihms Musik zu verdanken, ihrem geradezu körperlich wirkenden Ausdruckswillen. Das in sechs Proszeniumslogen sowie auf der Bühne placierte Schlagwerk unterlegt die postmoderne Polyfonie der szenischen Ideen mit einem gleichsam atavistischen Grundpuls, der das Geschehen unablässig vorantreibt und keine Zweifel daran lässt, dass diese Kreuzfahrt ins Nirgendwo ein böses Endes nehmen wird.

Gabriel Feltz entfesselt am Pult der hochkonzentrierten Philharmonia Zürich gewaltige Klang-Eruptionen und lässt darin etwas von der Begeisterung des damals 35 Jahre jungen Rihm aufklingen, der sich mit diesem und anderen Stücken jener Zeit aus dem Würgegriff der orthodoxen Serialisten befreite. Zugleich macht die Zürcher Wiederaufführung die ungeheure Entwicklung greifbar, die dieser ungemein produktive Komponist bis heute durchlaufen hat: Weit, aber konsequent erscheint der Weg von der urwüchsigen Lust am Musikalisieren der Müllerschen «Hamletmaschine» bis zu den auf geistreiche Weise retrospektiven und sublimierten Konzertwerken der jüngsten Zeit.

Rihm selbst zeigte sich nach der Premiere hoch zufrieden mit der Zürcher Aufführung. Tatsächlich hat er nicht nur in den Mitgliedern des Opernchores, die in ständig wechselnden Rollen und Kostümen auftreten, sondern auch in Nicola Beller Carbone als Ophelia sowie den drei Hamlet-Darstellern, dem Bariton Scott Hendricks und den beiden Schauspielern Matthias Reichwald und Anne Ratte-Polle, denkbar intensive und glaubwürdige Interpreten. Die Befreiung des Stücks zu neuer Glaubwürdigkeit im Szenischen steht dagegen aus.