Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (26.01.2016)
Das Zürcher Opernhaus holt Wolfgang Rihms lange nicht gespielte «Hamletmaschine» zurück auf die Bühne: ein spannendes Werk – das Regisseur Sebastian Baumgarten gleich wieder versenkt.
Man schreibt das Jahr 1977, Hamlet steht an der Küste, «im Rücken die Ruinen Europas»: So beginnt Heiner Müllers ebenso berühmter wie verstörender Text «Die Hamletmaschine». Inzwischen schreibt man das Jahr 2016, Hamlet steht gleich dreifach auf der Bühne des Zürcher Opernhauses, sieht aus wie Heiner Müller – und schaut kein einziges Mal zurück auf diese «Ruinen Europas», die sich in diesen Tagen wieder hoch auftürmen. Stattdessen hat er die deutsche Gegenwart von 1977 im Blick: Ulrike Meinhof, die sich kürzlich umgebracht hat. Die Plattenbauten von Ost-Berlin. Den toten Marx. Lenin. Mao.
Seltsam: Ausgerechnet Sebastian Baumgarten, der in Zürich Mozarts «Don Giovanni» verhackstückt hat und die Opern auch sonst nur ungern so belässt, wie sie gedacht waren, vertritt hier einen stur verengten Begriff der Werktreue. Zwar zeigt ein Video gleich zu Beginn Flüchtlinge auf einem Schiff; aber für den Rest des Abends zieht man sich zurück in den Schiffsbauch, den Barbara Ehnes gebaut hat. Die Welt kann draussen bleiben, sagt diese Inszenierung, wir haben genug zu tun mit unseren Ikonen.
Ständige Eruption
Der Komponist Wolfgang Rihm war da wesentlich weiter, als er Heiner Müllers Text 1987 in einem Musiktheater aufgehen liess. Es war keine einfache Zeit für einen wie ihn: Wer damals Opern komponierte und sogar gelegentlich Melodien zuliess, wurde rasch als reaktionär hingestellt. «Neue Einfachheit» hiess das Schimpfwort, das Rihm damals zur Weissglut brachte. Ein bisschen klingt seine «Hamletmaschine» wie eine Verteidigung – dicht, komplex, komprimiert. Das im Raum verteilte Riesenschlagzeug verstärkt den Text oder prügelt ihn nieder. Das Orchester befindet sich in ständiger Eruption, den weit ausschlagenden Gesangspartien fehlt noch jene verspielte (wenn auch nach wie vor komplexe) Gelassenheit der neueren Rihm-Werke.
Aber der persönliche Ton ist schon da. Und auch der unbedingte Wille, Heiner Müllers Kulttext nicht einfach zu vertonen, sondern zu etwas Neuem, Eigenem zu formen. Müller hatte Hamlet als Sparringspartner gewählt, Rihm tritt gegen beide und mit beiden an – spiegelnd, variierend, neu denkend. Er öffnet dabei die Perspektive weit über die damalige DDR hinaus: Mal klingt eine Händel-Arie an, mal ein Bach-Choral, dann scheppert Unterhaltungsmusik. Die Sprechfuge zu «Heil Coca-Cola» mag dem damaligen Zeitgeist geschuldet sein, auch von den gezackten Vokallinien hat man sich inzwischen verabschiedet; aber vieles andere sticht und trifft 25 Jahre nach der letzten Aufführung dieser «Hamletmaschine» nach wie vor.
Singen und sprechen
Dafür sorgt auch Dirigent Gabriel Feltz, der sich auskennt mit zeitgenössischen Partituren und die vielen Fäden souverän sortiert und verknüpft. So weit er die Klänge auseinanderdriften lässt, so sicher führt er sie wieder zusammen – und das Pianissimo gelingt der Philharmonia dabei ebenso intensiv wie das Gebengel des Schlagwerks.
Auch die Sängerinnen und Sänger, die Schauspielerinnen und Schauspieler erhalten ihren Raum in diesem Klang. Scott Hendricks geht als Hamlet III zwischen Bass und Falsett aufs Ganze; Nicola Beller Carbone sucht als Ophelia ebenfalls eher den präzisen Ausdruck als den schönen Ton. Als Hamlet I und II kläffen und besänftigen Anne Ratte-Polle und Matthias Reichwald, deren Sprechen sich mal nahtlos, mal fremd zum Singen der anderen fügt. Und dann ist da der von Jürg Hämmerli und Michael Zlabinger einstudierte Chor, der über sich hinauswächst in seinen ebenso wuchtigen wie präzisen Auftritten.
Regisseur Sebastian Baumgarten scheint bei alldem nicht allzu genau hingehört zu haben. Er hat Müllers Text inszeniert, nicht Rihms Musiktheater. Und schon da ist er mit dem Wust der Assoziationen und Bilder und Gedanken nicht zurechtgekommen.
Zu abstrakt, zu deutsch
Zwar hat er versucht, Ordnung zu schaffen, etwa indem er die fünf Teile an verschiedenen Orten spielen lässt. Am Berliner Alexanderplatz also oder in der Warhol Factory (weil Heiner Müller sich für Andy Warhol interessiert hat). Auch die Figuren sollen Anknüpfungspunkte ermöglichen, und natürlich ist es amüsant, wenn der Sandmann des ehemaligen DDR-Fernsehens durchdreht. Aber das alles bleibt zu abstrakt, zu verkopft, zu tot, zu ausschliesslich deutsch in seinen Referenzen. Da hilft es nichts, dass die multiplizierten Ophelias im letzten Teil orange Overalls anziehen, wie man sie aus IS-Videos kennt: Danach wird gleich wieder das Foto der Mörderin Susan Atkins an die Wand geheftet, deren Geschichte Heiner Müller beschäftigt hatte.
Man denkt dann zurück an die Salzburger Festspiele vom letzten Sommer. Dort war Wolfgang Rihms «Eroberung von Mexico» (1991) ausgegraben worden, und Regisseur Peter Konwitschny hatte die Vorlage radikal konkretisiert. Statt Spanier und Azteken gerieten nun ein Mann und eine Frau aneinander, wobei die originale Meta-Konstellation jederzeit mitgemeint war; und das war so erhellend und lustig und traurig, so genau und musikalisch gedacht und umgesetzt, dass das Publikum am Ende tobte.
In Zürich stimmte man nach eineinhalb Stunden ziemlich verzagt in den matten Applaus ein. Zuvor war der Schiffsbauch auf der Bühne mit Videowasser und zwei Haifischballonen überschwemmt worden; die Figuren waren untergegangen, und mit ihnen eine überforderte Regie. Vor allem aber hatte dieser Abend einen weiteren Rest jener Hoffnung weggespült, dass in diesem Europa wenigstens die Künstler über die eigenen Grenzen und Traumata hinausdenken könnten.