Wer es verstehen will, soll zu Hause bleiben

Christian Berzins, Mittelland Zeitung (26.01.2016)

Die Hamletmaschine, 24.01.2016, Zürich

Das Opernhaus Zürich zeigt mit Mut zum Risiko Wolfgang Rihms 1986 komponierte «Hamletmaschine», ein Schlüsselwerk des späten 20.Jahrhunderts

Versuchen Sie es bloss nicht mit «Das verstehe ich nicht». Mit dieser Ausrede kommen Sie bei Wolfgang Rihm nicht durch. Der weltweit bejubelte Komponist (*1952) hat darauf nämlich folgende Antwort parat: «Kunst hat insofern mit dem Leben zu tun, dass sie einen Prozess zeigt, der in allen auslösenden Momenten und scheinbaren Zielpunkten niemals ganz verstanden werden kann. Darin gleicht die Kunst dem Leben. Nicht verstehen heisst ja nicht einfach nur dumpf davorzustehen, sondern aktiviert zu werden, Teilbereiche zu ergründen und eine Art Grundvertrauen in die Daseinsform des Lebens aufzubauen.»

Da muss man erst mal Luft holen – oder nochmals von vorne beginnen. Gut so, denn nun gehts hinein in Rihms 1986 komponierte, 100 Minuten lange Oper «Hamletmaschine».

Das Werk basiert auf einem 1977 geschriebenen Text des Dramatikers Heiner Müller (1929–1995). Es versuchte das Kunststück, die grossen «Hamlet»-Gedanken zu komprimieren: Auf gerademal neun Seiten reflektierte die spätere Kultfigur via Shakespeare die Situation des Intellektuellen in der DDR.

Für Wolfgang Rihm war das die Vorlage, um in den Achtzigern sein Ideal zu verwirklichen: Text, Musik und Theater sollten als Einheit gedacht werden. Gewiss: Opernfreunde können da nur müde lächeln, ging doch Operndinosaurier Richard Wagner (1813–1883) mehr als hundert Jahre früher daran, diese Art Gesamtkunstwerk zu erschaffen und Handlung, Raum und Zeit zu verschmelzen, ja aufzulösen. Natürlich ist das kein Grund, sich nicht mit Rihm zu beschäftigen.

Vorbereitung? Nicht nötig

Wer Shakespeares «Hamlet» präsent hat, ist schon weit. Und klar: Müllers «Hamletmaschine» zu lesen, gibt viele Anregungen. Aber auf das Zürcher Aufführungserlebnis hat das keinen Einfluss. Denn Rihms Musik ist voller pulsierender Sinnlichkeit, erschreckender Unmittelbarkeit und famoser Effekte. Über den Begriff Schönheit, gewiss, da lässt es sich ewig streiten.

Wie sehr dann Text, Spiel und Musik eins werden, erahnt man zum Schluss, wenn der Kritikerkopf diese Elemente schulmeisterlich sezieren will. Es ist sinnlos. Die Leistung von Regisseur Sebastian Baumgarten ist gerade deswegen enorm, da es ihm gelingt, Musik mit Text und Bühne (Barbara Ehnes) innig zu vereinigen. Der Versuch, eine lineare Geschichte erzählen zu wollen, wäre zwecklos, auch wenn der eine oder andere rote Faden zu erkennen ist. Es gibt sogar reale, zeitlich verortete Situationen. Das sind Schichten, die aus der (DDR-)Geschichte erzählen, im Idealfall in die Gegenwart reichen. Spannung sollte deswegen dennoch keiner erwarten. Erst die Musik gibt den Szenen ihre wahren Geschichten.

Rihm ist Partei, seine Musik charakterisiert, sie macht aus Sätzen Taten, aus den Fragmenten ganze Szenen. Wagners rätselhaftes Wort «Der Raum wird hier zu Zeit» erklärt sich neu. Müllers Text ist Raum – unendlich und nichtig. Rihms Musik aber ist Zeit: Sie füllt den Müller-Raum mit Dramatik.

Die Künstler geben sich dem Werk im Wissen hin, dass in dieser Einheit kein einzelnes Rädchen triumphieren kann. Umso eindrücklicher, wie Dirigent Gabriel Feltz das Zürcher Riesenorchester zusammenhält, wie sich Sänger (u.a. Nicola Beller Carbone, Scott Hendricks, Matthias Reichwald) und Schauspieler (Anne Ratte-Pole) famos in dieses ungeheuerliche Experiment stürzen und der Chor schreiend, murmelnd und singend mithält.

Dauerte der Abend 5 Stunden?

Wer sich darauf einlässt, weiss zum Schluss nicht mehr, ob der Abend fünf Stunden oder bloss eine halbe dauerte. Das ist die Kunst des Zauberers Rihm, der über seine Musik zu Recht sagt: «Für das ‹gemeine› Publikum ist man der kakophone Avantgardist, und für die zukunftstrunkene Fachkritik ist man der indiskutable Altmodische. So tröstet man sich mit dem Bewusstsein, dass man den einzig richtigen Ort zum Überleben gefunden hat, nämlich den dazwischen.» Aber Vorsicht, der Gang durch das Dazwischen ist ein Gang durch Nebel – links und rechts lodert das Feuer.