Keine Reise der Hoffnung – das Europa-Schiff geht unter

Herbert Büttiker, Der Landbote (26.01.2015)

Die Hamletmaschine, 24.01.2016, Zürich

Als Phantom des zeitgenössischen Musiktheaters taucht ein kolossales Schiff im Opernhaus auf und geht am Ende unter. Heiner Müllers und Wolfgang Rihms ausweglos böse «Hamletmaschine» verspricht keine Zukunft.

Wir blicken in den Laderaum einer Fähre, einen düster grauen Bühnenraum, der nur an der Rückwand seltsame, kleine, fast blinde Fensterchen aufweist, deren Scheibenwischer einmal auch betätigt werden. So viel macht schon dieser riesige Schiffbauch der «Hamletmaschine» klar: Wir sind aussichtslos unterwegs und am Ende wissen wir, dass auch die Fenster im Rücken zu nichts gut waren.

Nach anderthalb Stunden voller Gewalt, Leichenentsorgung, Jugendrevolte, marodierender Frauen, Schmerzensschreie, Hass und Ekel sitzt Hamlet mit seinen beiden Doubles und mit der gezähmten Elektra an einem kleinen Küchentisch, der mit Europas Sternenbanner gedeckt ist, in diesem Frachtraum und beginnt zu (fr)essen. Aber dann stürzt von zwei Seiten her Wasser herein, und schon tummeln sich im sinkenden Schiff die Fische.

Bildgewaltiges Spektakel

Grandios und hochkomisch ist dieses Untergangsszenario mit den glänzenden Fischballons. Wer das Bühnenmetier liebt, langweilt sich nicht in dieser «Hamletmaschine». Die Bühnenbildnerin (Barbara Ehnes) und die Videodesigner (Chris Kondek) arbeiten sich in die Hände für ein bildgewaltiges Spektakel. Den fünf Teilen des Werks ordnet Sebastian Baumgartens Inszenierung eine Fülle von Assoziationen mit Ort und Datum zu, und die Kostümbildnerin (Marysol del Castillo) veranstaltet für das über zwanzigköpfige Ensemble und den grossen Chor eine richtige Ausstattungsorgie.

So wird der Frachtraum unvermittelt auch zum Gefängnis in Stuttgart Stammheim am 9. Mai 1976, als dort die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof starb. Sie wird zu Andy Warhols popverrückter Factory, und auch der Berliner Alexanderplatz rückt ins Bild, und zwar vorausschauend auf den Tag der Einheit am 3. Oktober 2016, wo es demnach zu Ausschreitungen kommt: Die Social-Media-empörten Jungen mit den gelben Emojis auf den T-Shirts verprügeln irgendeinen Politiker.

Schichten statt Geschichten

Wie das alles zusammenhängt? Jedenfalls nicht in einer Geschichte, die sich einem roten Faden nach erzählen lässt. Für den DDR-Autor Heiner Müller war der neunseitige Text «Hamletmaschine» ein Nebenprodukt zur Arbeit an einer neuen Übersetzung des Shakespeare-Dramas, eine äusserst verdichtete Reflexion des Stücks als Parabel der eigenen Zeit und Hamlet-Existenz in der DDR. Der Text entstand 1977 in wenigen Stunden und wurde für ihn wie die Literatur überhaupt zu einem Schlüsseltext der – postdramatischen – Dramatik.

In diesem Zusammenhang wurde die «Hamletmaschine» auch für den Komponisten Wolfgang Rihm interessant als Quelle für ein neues Musiktheater in Abkehr von den «Plapper-Libretti» der konventionellen Operndramatik. Uraufgeführt wurde seine «Hamletmaschine» in Mannheim 1987. Nach einer zweiten Inszenierung in Hamburg zwei Jahre später landete sie in der Versenkung. Jetzt nach über 25 Jahren lässt sich von der Ausgrabung eines zeitgenössischen Stücks sprechen und vom Wagnis, das grosskalibrige Werk, das irgendwie aus der Zeit gefallen ist, neu zu beleuchten.

Schlagzeuggewitter

Der Aufwand ist riesig, nur schon was das Orchester betrifft, das nicht nur im Graben spielt. Zwei Schlagzeugstationen auf der Bühne, je drei links und rechts in den Logen und Spieler auch seitlich im zweiten Rang sind am Klanggeschehen beteiligt. Klirrend leise und explosive Effekte und dissonant anschwellende Akkorde der Bläser und Streicher charakterisieren die instrumentale Aktion, in die rezitativischer Gesang und skandiertes Sprechen in manchen Parforcevarianten eingearbeitet ist.

Beziehungszauber

Die Aufgabe der Koordination dieser «Klangskulptur» mit dem Bühnengeschehen liegt in den Händen von Gabriel Feltz. Sänger und Schauspieler sind gleichermassen gefordert und leisten Enormes, so der Bariton Scott Hendricks für Hamlet III, die Schauspielerin Anne Ratte-Polle für Hamlet II und Matthias Reichwald für Hamlet I, dann vor allem auch die dramatische Sopranistin Nicola Beller Carbone als Ophelia. Sie alle werden im Assoziationsfeld der Inszenierung nicht nur die Shakespeare-Figur. So sind die Hamlets mit dunkler Hornbrille auch Verkörperungen des Autors, die Leiche und das Gespenst von Hamlets Vater trägt die Maske von Karl Marx. Ophelia, die vom Text mit der Rächerin Elektra in Verbindung gebracht wird, ist in der Inszenierung auch Ulrike Meinhof und am Ende die Mörderin Susan Atkins im Gefolge Charles Mansons.

Mit «Schichten statt Geschichten» hat man es formal zu tun, inhaltlich mit Verweisen auf Geschichten, mit einem wüsten Kaleidoskop der Bilder, mit dem einem die geballte Klangmaterie entgegenstürzt. Überwältigend? Eher schützt die herausgeforderte Wahrnehmungsbeschäftigung die subkutane Wirkung ab. Dafür liefern Müller-Zitate, die als Projektionen da und dort auftauchen, Thesen: «Es besteht die Gefahr, dass eine Bevölkerung ohne Träume herumläuft.»

Diese Gefahr ist real, aber Träume schenkt uns auch die «Hamletmaschine» keine, alles ruft da: Aufwachen! «Hoffnung ist nur ein Mangel an Information» ist ein weiterer berühmter Satz, den das Stück zu quittieren scheint.

Text wie Musik gehören einer Zeit an, als die Mauer noch stand. Sie war die Weltwunde, die jederzeit aufplatzen konnte. Sie bestimmte den Fokus des Autors, der den Sozialismus untergehen sah, aber auch nicht «Heil Coca-Cola» rufen mochte. Nicht dass die Welt seither besser geworden wäre, aber ihren Zustand am Gegensatz zwischen Marx als DDR-Gespenst oder als buntes Siebdruckporträt von Andy Warhol zu messen, mutet heute eher antiquiert eurozentristisch an. Die grossen Ideen mögen weg sein, die Menschen sind noch da.

Voller Zweifel

Eine Perspektive der Gegenwart wäre die des Flüchtlings, der alles riskiert, um sich und seinen Kindern eine Zukunft zu geben. Mit anderen Worten, der Weltekel, den die «Hamletmaschine» auskotzt, ist ein Luxus, den jede schlichte menschliche Sorge aushebelt. Diese hat in diesem Weltpanorama keinen Platz. Hingegen sagt Müller-Hamlet in Teil 4 selber: «Mein Ekel ist ein Privileg.»

Ein Privileg ist es auch, dem spektakulären Untergang des Euro-Schiffes im Opernhaus beiwohnen zu dürfen. Man verfolgt ihn nicht mit allzu grosser Betroffenheit, wenn nicht gar mit Schmunzeln und denkt, nach dem verdient langen Applaus für alle Beteiligten und den anwesenden Komponisten, draussen dafür vielleicht an die kenternden Boote auf dem Mittelmeer und ist voller Zweifel.