Plaste-Haie singen sie zur Ruh

Eleonore Brüning, Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.01.2016)

Die Hamletmaschine, 24.01.2016, Zürich

Seit sechsundzwanzig Jahren wurde Wolfgang Rihms Musiktheater „Die Hamletmaschine“ nicht mehr gezeigt. Das Zürcher Opernhaus wagt sich wieder daran – mit Erfolg.

Schlag auf Schlag, so geht das los. Worte, schwer wie Blei, jede Silbe steht für sich. Auf der letzten Silbe (das Wort lautet „Europa“) setzt die große Trommel ein, vielmehr zwei große Trommeln, dazu zwei Hämmer und noch ein paar Krachmacher mehr, ein perkussiver Tuttiklang zerschlägt das Wort zu Brei. Prinz Hamlet oder vielmehr einer, der behauptet, Hamlet gewesen zu sein, steht an der Küste und redet mit der Brandung, „im Rücken“ hat er „die Ruinen von Europa“.

Wie konnte Heiner Müller anno 1977 in der DDR, als er seine enigmatische Shakespeare-Übermalung, die Polittextcollage „Hamletmaschine“, niederschrieb, neun Schreibmaschinenseiten kurz, Sätze erfinden, die uns heute wieder ans Herz greifen, kälter denn je? Und woher nahm Wolfgang Rihm, der sechs Jahre später in der BRD damit begann, Müllers Text mit Musik zu übermalen, die Wucht der Prophetie?

Und warum, drittens, haben wir mehr als ein Vierteljahrhundert warten müssen, bis endlich ein Intendant dieses „Musiktheater in fünf Bildern“ sowie das in ihm steckende aktuelle Potential zur Kenntnis nimmt und die Sache wieder zur Aufführung bringt?

Zu Unrecht vergessen

Unter den vielen „Opern“, die Rihm komponierte, ist seine „Hamletmaschine“, entstanden nach „Jakob Lenz“, vor „Oedipus“, die einzige, die man erfolglos nennen kann. Vielmehr: die man legendär nennen muss. Sie sei, sagt die Legende, unaufführbar. Oder: nicht mehr zeitgemäß. Man kennt sie nur aus Noten, vom Hörensagen oder von einem Livemitschnitt der Uraufführung 1987 in Mannheim. Danach gab es noch eine weitere Produktion in Freiburg und, 1989, eine letzte in Hamburg. Das war’s.

Aber jetzt hat das Opernhaus in Zürich den Bann gebrochen und, unter Anspannung aller Kräfte, den Beweis geführt, dass dieses Stück, gut hundert Minuten lang, glänzend machbar ist; dass die beiden großen Gesangspartien durchaus singbar und die von sechs Schlagzeugern entfesselten Fortegewitter ebenso leicht durchhörbar sind wie die im Glissando verebbende Lamentolyrik und überhaupt die komplexe Polyphonie der musikalisierten Zustände; und dass diese „Hamletmaschine“, trotz etlicher Staubspuren enigmatischer Gestrigkeit, einen Kraftstrom entfesselt, der jeden Hörer in den Sitz drücken kann. Das bisschen Staub knirscht im Text, dem (wie Müller selbst ihn nannte) „Schrumpfkopf“ des Shakespeareschen Dramas. Die Musik dagegen: frisch wie am ersten Tag.

Als dreifach geteiltes Echo seiner selbst tritt Hamlet auf, verkörpert von zwei Sprechern und einem Bariton. Letzterer wird in Zürich von Scott Hendricks gesungen, der, als sei das ganz selbstverständlich, den weiten Ambitus seiner Partie mühelos ausmisst, so treffsicher-virtuos und differenziert-authentisch, dass sich jedes Mal, wenn Gesungenes und Gesprochenes aufeinandertreffen, kleine Lücken auftun. Die Schauspieler Anne Ratte-Polle und Matthias Reichwald als Hamlet I und Hamlet II klotzen expressionistisch, zuweilen hart an der Grenze zum Geschrei, und sie chargieren clownesk. Denn der Regisseur, Sebastian Baumgarten, hat sich den Kalauer nicht verkniffen, aus den drei Hamlets einen dreifachen Heiner Müller zu machen. Das gibt sogar Lacher, beispielsweise, wenn einer der Hamlets (alias einer der Müllers) sich aus Kostüm und Maske von Karl Marx (alias dem Geist von Hamlets Vater) herausschält, der soeben festlich zu Grabe getragen wurde.

Auf der Höhe der Zeit

Auch auf das Thema Flüchtlinge, das wohl derzeit in keiner Theater- oder Operninszenierung fehlen darf, hat Baumgarten nicht verzichtet. Er zeigt das alte Europa von innen beziehungsweise in Filmprojektionen als eine verrottete Fähre, einen menschenüberfüllten Seelenverkäufer, der zu Beginn in die blaue Ägäis sticht, am Ende dann, leckgeschlagen, untergeht und sich mit gluckernden Video-Fluten füllt, woraufhin all die Hamlets respektive Müllers, auch Ophelia (machtvoll und schön gesungen von Nicola Beller Carbone) samt ihren wilden Amazonendoubles, auch die Tänzer und die Lachenden und Schreienden sämtlich ertrinken. Und Plaste-Haie singen sie zur Ruh.

Ansonsten hat das vielköpfige Regieteam rund um Baumgarten mit allerhand Licht- und Projektionszauber, mit akrobatischen Choreographien, reibungslos ineinandergreifenden Verwandlungen sowie blitzartigen Kostümwechseln eine durch und durch „werktreue“ Inszenierung erschaffen, mit hoher Revue-Qualität. Selbst ein in der Schweiz sozialisiertes Publikum kann mit Leichtigkeit jederzeit erkennen, dass es irgendwie um die deutsch-deutsche Identität geht, betrachtet durch VEB-Plastebrillen. Zuweilen kommt es vor, dass diese leicht getrübte, etwas einseitige Retrosicht auf die „Hamletmaschine“ arg ostig wirkt. Manchmal ist aber auch einfach viel zu viel los in diesem Kessel Buntes.

Zwischen Shakespeare und deutsch-deutscher Geschichte

Baumgarten hat über die existentiellen Fragen, die diese autobiographisch aufgeladene Shakespeare-Paraphrase von Müller und Rihm aufwirft, ein paar handfeste Lektionen deutsch-deutscher Geschichte kopiert: Ophelia ist auch Ulrike Meinhof, Hamlet ist auch Andy Warhol, der ungarische Aufstand ist eine Pegida-Demonstration auf dem Alexanderplatz, und sogar das Sandmännchen und Pittiplatsch müssen ran. Man braucht sie nicht, aber sie stören auch nicht weiter. Das Stück, die Musik, sie halten beides locker aus, dumme Witze ebenso wie Missverständnisse.

Die pessimistische Botschaft Müllers, der Hoffnung für eine Form der Nicht-informiertheit hielt und den Lauf der Welt zu gut durchschaute, als dass er ihn hätte ändern wollen, bleibt unmissverständlich. Quer dazu steht die positive Energie der phantastisch vielschichtigen Rihmschen Musik, die Bitterkeit der Botschaft wieder zurücknehmend. So ist die Vertonung der Geisterszene, zusammengesetzt aus Glockengeläut und verrutschtem Choralgesang, Bläserklagen, Gelächter, Geschmatze, Getrommel und Geräusch, nicht nur ätzende Parodie, sondern auch mitleidend. Dieser Widerspruch macht die anhaltende Aktualität des Stückes aus. Chöre, Solisten und Orchester der Zürcher Oper sowie der Dirigent Gabriel Feltz, der alle mit Verve und Umsicht führte, verdienen hohes Lob.