Erotische Träume und kindliche Fantasien

Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (29.02.2016)

King Arthur, 27.02.2016, Zürich

Zwei Semi-Operas von Henry Purcell in Stuttgart und Zürich

Welttheater, made in England: In Stuttgart inszeniert Calixto Bieito «The Fairy Queen» als erotischen Sommernachtstraum. In Zürich zeigt Herbert Fritsch «King Arthur» – spielerisch und voller Ironie.

Von den musikdramatischen Werken des grossen englischen Barockkomponisten Henry Purcell hält sich auf kontinentaleuropäischen Bühnen fast ausschliesslich «Dido and Aeneas» im Repertoire. Kein Wunder: Das Stück ist die einzige traditionell durchkomponierte Oper Purcells. Dessen Hauptinteresse galt indes der sogenannten Semi-Opera, dieser typisch englischen Sonderform, bei der ein gesprochenes Drama mit gesungenen und getanzten Szenen sowie mit instrumentalen Nummern angereichert wird. Diese Mischform stellt heutige Inszenierungen vor gewaltige Herausforderungen.

Verkeilung von Musik und Text

In Stuttgart ist Purcells Semi-Opera «The Fairy Queen» als Koproduktion zwischen der Staatsoper und dem Schauspielhaus entstanden. Das Stück basiert auf einem anonymen Libretto, das in Anlehnung an Shakespeares «Ein Sommernachtstraum» entstanden ist. In Stuttgart rekurriert man textlich allerdings auf den originalen Shakespeare, staucht ihn massiv zusammen und bringt ihn in deutschen Übersetzungen. Purcells Musik erklingt in der erweiterten Zweitfassung von 1693 und wird englisch gesungen. Sie besteht im Wesentlichen aus sogenannten Masques, die jeden der fünf Akte beschliessen. Die Pointe der Stuttgarter Fassung liegt nun darin, dass die Text- und die Musikteile untrennbar ineinander geschachtelt und durch hinreissende Tanzelemente (Choreografie: Beate Vollack) miteinander verbunden werden.

Schauspieler mimen die drei Liebespaare Oberon-Titania, Lysander-Hermia und Demetrius-Helena aus Shakespeares Drama. Ensemblemitglieder der Oper spielen die allegorischen Figuren der Masques, die das turbulente Geschehen der gesprochenen Schicht deuten. Der Regisseur Calixto Bieito, lange berüchtigt für skandalträchtige Inszenierungen, zeigt sich in Stuttgart von einer derb-komödiantischen Seite. Er lässt die Sequenzen vom keifenden Elfenkönigspaar und den Liebeswirren der Athener «Jeunesse dorée» in einer Disco spielen, in der es buchstäblich tierisch zugeht.

Dazu hat Susanne Gschwender auf einer Drehbühne, wo auch das Orchester spielt, eine überdimensionale Discokugel errichtet. Hier wird getanzt, getrunken, gegrapscht und gefummelt. Und dies mal im Badekleid, im Brautkleid, im Transvestiten-Look oder mit einem Geweih auf dem Kopf (Kostüme: Anja Rabes). Bieito führt das Publikum in eine nächtliche Welt voller sexueller und erotischer Obsessionen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Elfenkönigin Titania (Susanne Böwe), deren Liebhaber ihr Gatte Oberon (Michael Stiller) durch Zaubertrank in einen Esel verwandelt, von dem Titania sehnlichst begattet werden möchte.

Auf musikalischer Ebene findet mit dem englischen Alte-Musik-Spezialisten Christian Curnyn und Mitgliedern des Staatsorchesters Stuttgart eine gelungene Heirat statt. Curnyn, der vom Cembalo aus dirigiert, bringt einen erstaunlich «originalgetreuen» Klang zustande. Zudem nimmt er das hohe Tempo und den bilderprallen Rausch von Bieitos Inszenierung auf und bringt die Musik der «Fairy Queen» unerhört abwechslungsreich, farbig und ganz unmittelbar zur Geltung.

Held in Blechrüstung

Auch bei Purcells «King Arthur» handelt es sich um eine Semi-Opera. Das Stück erlebte seine Uraufführung 1691, und zwar, wie «The Fairy Queen», ebenfalls im Londoner Theater Dorset Garden. Das Libretto stammt vom Hofpoeten John Dryden und greift die Legende von König Artus aus der Völkerwanderungszeit auf. Dryden und Purcell knüpfen indes nicht am christlich-höfischen Profil des Helden mit edler Ritterrunde und Gralskult an, sondern stellen die Legende in einen national-royalistischen Zusammenhang: Der britische König Artus kämpft erfolgreich gegen den Sachsenkönig Oswald und seine Armee. Dabei erobert Arthur en passant auch gleich seine Geliebte Emmeline, die Oswald gefangen genommen hatte, wieder zurück.

Für die Produktion am Opernhaus Zürich hat die Dramaturgin Sabrina Zwach das Libretto ins Deutsche übersetzt und modernisiert; die engagierten Schauspieler setzen gelegentlich improvisierend noch eins drauf. Wie bei «The Fairy Queen» sind auch bei «King Arthur» die tragenden Rollen des Stücks Schauspielern vorbehalten, während die Welt der Geister und der mythologischen und allegorischen Figuren von Sängern dargestellt werden. Der Krieg findet also auf zwei Ebenen statt. Herbert Fritsch, der als Regisseur vom Sprechtheater kommt und vor drei Jahren in Zürich seine erste Oper inszeniert hat, zeigt nun auch bei «King Arthur», dass er mit dem Musiktheater etwas anfangen kann. So ausschweifend wie die Phantasien von Bieito sind diejenigen von Fritsch indes nicht.

Er versetzt den Krieg um Weib und Vaterland in eine spielerische Welt, die bald kindlich, bald ironisierend wirkt. Die Ritter kämpfen mit Holzschwertern gegeneinander, König Arthur (Wolfram Koch) steckt in einer klimpernden Blechrüstung, Oswald (Florian Anderer) benimmt sich wie ein dauerbesoffener Sachse, Emmeline (Ruth Rosenfeld) mimt das Püppchen vom Dienst, und Merlin (Corinna Harfouch) sieht aus wie Miraculix aus den «Asterix»-Comics. Die aufwendigen Kostüme von Victoria Behr verstärken diese Wirkung. Ganz schlicht ist dagegen Fritschs Bühne gestaltet, die einzig aus einer Projektionsfläche an der Rückwand besteht.

Purcells originale Partitur zu «King Arthur» ist nicht erhalten, folglich gibt es verschiedene musikalische Fassungen. Der Dirigent Laurence Cummings hätte also in der Verschachtelung von Text und Musik noch weiter gehen können – anders als in Stuttgart fallen in Zürich die beiden Elemente der Semi-Opera gelegentlich auseinander. Musikalisch bietet indes die Zürcher Produktion eine Spitzenleistung. Mit Cummings steht dem Orchester La Scintilla ein erstklassiger Kenner der englischen Barockmusik vor. Und auch er wählt, wie Curnyn in Stuttgart, eine üppige Besetzung, die auch Schlaginstrumente einschliesst. Unter den zahlreichen Gesangspartien seien Mélissa Petit als Luftgeist Philidel und Nahuel Di Pierro als Kältegeist hervorgehoben.

Ungleiche Spannungskurven

Zieht man Bilanz, gebührt der erste Preis klar der Stuttgarter «Fairy Queen». Die Unterschiede liegen im Spannungsverlauf: Bei Bieito-Curnyn wird man von Anfang an mit Haut und Haar in das Spektakel hineingezogen – und es lässt einen nicht mehr los. Die dargestellten Gefährdungen der gesellschaftlichen Ordnung wirken so nachhaltig, dass man an das angedeutete Happy End nicht glauben mag.

Bei Fritsch-Cummings ist man anfänglich amüsiert über den lockeren Zugriff, beginnt sich dann etwas zu langweilen, wenn stets dieselben Gags bemüht werden, und gewinnt schliesslich nach der Pause wieder Interesse, wenn es um die Prüfungen geht, denen das Liebespaar Arthur-Emmeline ausgesetzt ist. Sehenswert und wichtig für die Purcell-Rezeption sind gleichwohl beide Produktionen.