Das zerbrechende Ich

Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (05.04.2016)

Macbeth, 03.04.2016, Zürich

Verdis «Macbeth» am Opernhaus Zürich

Im Shakespeare-Gedenkjahr will die Zürcher Oper ein gewichtiges Wort mitreden. Mit ihrer «Macbeth»-Premiere glückt ihr weit mehr: ein Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte dieses düsteren Dramas.

Wenn nur die Hexen nicht wären! Dann könnte man ja glauben, dass sich hier ein armer Irrer, angetrieben von seinem machtgierigen Ehegespons, quer durch den royalen Stammbaum mordet, um irgendwann, über und über besudelt von Blut und Schuld, Platz zu nehmen auf seinem elenden Thron. Dergleichen kommt vor, man kennt das, auch ohne Blut und Dolch. Sobald allerdings die Fräulein mit den dampfenden Kesseln ihren Mund auftun, sind wir unweigerlich in der Oper – dann erhält die finstere Fiktion wohltönende Stimmen, und dahin sind aller Schein und alles vernebelte Grausen. Der Dirigent Teodor Currentzis und der Regisseur Barrie Kosky erkennen die Falle, die Verdis Melodramma «Macbeth» den Interpreten schon in der ersten Szene stellt. Sie ziehen daraus für ihre Neudeutung am Opernhaus Zürich eine radikale Konsequenz, die das heikle Werk am Ende so stimmig wirken lässt wie selten.

Der Blick des Doktor Freud

Für Kosky, den Intendanten der Komischen Oper Berlin, sind die Hexen nichts als fleischgewordene Ängste: Zerr- und Spiegelbilder einer im Wahn ihrer grausamen Taten versinkenden Kreatur. Die raffinierte Lichtgestaltung von Klaus Grünberg tut alles, um die Körper einer nackten Statistengruppe mithilfe von Videoüberblendungen in fliessende, irreale Schemen zu verwandeln. Was man dennoch erkennt, gleicht Doktor Freuds Blick in den Urgrund männlicher Sexualnöte: Da sieht man Frauen mit riesigen Gemächten, Männerkörper mit Vulva und schlaffen Brüsten, und alle diese Mann-Frauen bilden eine unheimliche Bacchanten-Truppe, die Macbeth auf Schritt und Tritt verfolgt. Am Ende wird sie buchstäblich mit Händen nach ihm greifen, als wolle sie seine deformierte Seele endgültig in die Unterwelt reissen.

Vor diesem Hintergrund des Unbewussten, das immer wieder machtvoll ins Geschehen dringt und doch irritierend un(be)greifbar bleibt, inszeniert Kosky ein streng stilisiertes, auch im Szenischen extrem verknapptes Kammerspiel: ein Kammer-Drama zwischen Macbeth und seiner Lady. Zwei Stühle und eine badewannenförmige Durchleuchtungslampe genügen ihm. Dahinter verläuft, nur von Lichterreihen erhellt, eine Strasse ins Nirgendwo. «Äusserst dunkel» wünschte sich Verdi die Bühne für seinen «Macbeth»; nachtschwarz bis zur Finsternis ist sie bei Kosky und Grünberg.

Doch wie schärft sich plötzlich der Blick auf die Figuren! Macbeth und die Lady – bei Kosky ist dies alles andere als ein auf masochistische Unterwerfung und Hörigkeit gegründeter Zweckbund; nämlich eine geradezu symbiotisch enge Liebesbeziehung, in der sich die Partner gegenseitig immer weiter in die Verblendung treiben. Kosky löst auf diese Weise ein dramaturgisches Grundproblem der Oper: Wird die Lady zu stark, kann der Titel-«Held» nur wie ein Schwächling wirken. Hier dagegen wird sich nichts geschenkt, ja womöglich sind die beiden – darauf deuten nicht zuletzt die einheitlichen Mantelkostüme von Klaus Bruns hin – bloss Spiegelfiguren ein und desselben zerbrechenden Ichs.

Bruch mit dem Belcanto

Ein solches psychologisierendes Konzept verlangt den Sängern ein Äusserstes an gestischer und mimischer Differenzierung ab – zusätzlich zu ihren beträchtlichen vokalen Herausforderungen. In Markus Brück und Tatiana Serjan hat die Zürcher Produktion zwei schlechthin ideale Sänger-Darsteller für die beiden Hauptrollen, die selbst die sängerisch schwierigsten Momente noch in den Dienst ihrer packenden Verkörperung stellen. Wenwei Zhang als Banco und Pavol Breslik als Macduff stehen ihnen in der Hinsicht kaum nach, sind von der Regie aber bewusst gegenüber dem mörderischen Paar zurückgesetzt. Und auf einmal begreift man Verdis scheinbar kuriose Forderung nach einer Sängerin für die Lady, die «nicht singen» möge: Alles muss hier mit gänzlich unopernhafter Glaubwürdigkeit dem Drama dienen – dies ist Verdis ebenso radikale Absage an die Belcanto-Tradition, in der er selber wurzelt. Dass die Interpreten den Mut besitzen, diesen Bruch mit den vorherrschenden Normen des Schöngesangs einmal wirklich auf der Bühne nachzuvollziehen, also den für Sänger immens hohen Preis zu zahlen von bewusst heiseren, scharfen, hohlen oder fast gesprochenen Tönen – dieser Mut macht die Zürcher Produktion zu einem ästhetischen Meilenstein in der Werkrezeption.

Durch Teodor Currentzis, der aus der historischen Aufführungspraxis kommt, erfahren sie am Pult die denkbar intensivste Unterstützung. Die Philharmonia Zürich spielt, als sässe eigentlich das hauseigene Originalklang-Ensemble La Scintilla im Graben. Viele leere Saiten, kaum Vibrato in den Streichern und Bläsern, ein herber, perkussiv geschärfter Zugriff in der stellenweise entfesselten Banda, dazu eine Dynamik, die vom fahlen Tonhauch bis über die Fortissimo-Schmerzgrenze getrieben wird – nein, «schön» im herkömmlichen Sinne klingt dieser Verdi ganz und gar nicht. Aber so aufregend, rhythmisch explosiv und charakteristisch, wie man ihn selbst in Italien selten zu hören bekommt.