Herbert Büttiker, Der Landbote (13.12.2005)
Für Stadt und Meer hat das Opernhaus Zürich keine Landschaftsmaler bestellt, aber für das Drama von Peter Grimes sprechen starke Bil der und intensive Darsteller.
«Peter Grimes», 1945 in London uraufgeführt, war Benjamin Brittens erste Oper und das grosse internationale Comeback der zeitgenössischen Musikdramatik nach dem Krieg. Die Anknüpfungspunkte des 32-jährigen Komponisten waren vielfältig – Verdi und Mussorgsky, Puccini und Strauss, Weill und Schostakowitsch –, aber der Ton und die Aussagekraft des Werks waren eigen. Was Britten thematisierte, war aktuell wie nie und ist es geblieben: die Fanatisierung einer Dorfgemeinschaft, die Stigmatisierung eines Aussenseiters, der das Kreuz trägt.
Der Tod eines Lehrbuben wird dem einzelgängerischen, ehrgeizigen und rauen Fischer Peter Grimes zur Last gelegt, und während er gehetzt wird, geschieht ein zweiter Unfall, weil er seinen neuen Jungen rücksichtslos das Kliff hinabtreibt. Ellen, die ihn liebt, und der mitfühlende alte Kapitän Balstrode können ihm nicht mehr helfen. Grimes, irre geworden, erhält den Rat, aufs Meer hinauszufahren und das Boot zu versenken.
Vielschichtig und griffig
Zur Deutung dieses Selbstopfers findet die Zürcher Inszenierung von David Pountney, Robert Israel (Bühnenbild) und Marie-Jeanne Lecca (Kostüme) eines ihrer Bilder, die sich von aller realistischen Schilderung stark entfernen. Der Mast, den Grimes herträgt und auf einem schwankenden Podest hisst, erinnert mehr an den Balken eines Kreuzes (statt des Querbalkens allerdings gibt es nur die Streben, wie sie zu einem Schiffsmast gehören könnten). Ähnlich abstrakt ist auch der Grundaufbau des Bühnenbildes, das an einen Pier erinnert. Aber an den hochragenden Bohlen sind übereinander die Stühle befestigt, auf denen sich das Leben der «Pfahlbürger» abspielt.
Zur Musik der Interludes, aber auch im monoton ausebbenden Schluss des Werks wirkt dieses Bild in seiner gespenstischen Dimension eindringlich schlüssig. Dass sich die Dramatik aber in den Symbolbildern der gar befrachteten Bühne nicht verfängt, ist dann doch Pountneys Zugriff auf das realistische Geschehen zu verdanken. Dabei bleibt er nahe am Text und in der Deutung zurückhaltend: Keine Anspielungen auf den in Brittens Biografie wurzelnden homoerotischen Subtext, dafür eine raffinierte Klarstellung des Unfallgeschehens und insgesamt eine starke, auch mit differenzierter Lichtführung herausgearbeitete expressive Personenführung. Diese ist voller unheimlicher Dynamik in den bewegten Chorszenen zwischen chaotischem Festtaumel und aggressiver Marschkolonne, berührend feinfühlig in der Begegnung zwischen Peter und Ellen und satirisch zugespitzt in der Schilderung der einzelnen Typen.
Dabei kann sich Pountney auch für die kleineren Partien auf ein hervorragendes Ensemble verlassen. Zur Palette gehören etwa die beiden Nichten, zwei Knallbonbons (Sandra Trattnigg und Liuba Chuchrova), und die attraktive Wirtin (Liliana Nikiteanu), die die Kneipe zum Lebenszentrum des Ortes machen. In den «Eber» verirrt sich auch die bigotte, aber opiumsüchtige Mrs. Sedley – die wohl gar überchargierende Cornelia Kallisch –, der methodistische Moraleiferer Bob Boles, der sich betrunken an eine der Nichten heranmacht (Rudolf Schasching), Richter Swallow (Richard Angas), der sich hier ebenfalls als Lüstling umtreibt, und Reverend Horace Adams (Martin Zysset), der immerhin ein Tänzchen wagt.
Charismatisch
Das ganze Treiben verbindet Britten in einer grossartigen Montage mit Songs, Tanzeinlagen und Bühnenmusik zu einem panoptischen Gesellschaftsbild, aus dem die starken Charaktere herausleuchten. Zu ihnen gehört Balstrode, der alte Seebär mit Weitblick und offenem Herzen – eine ideale Partie für einen geerdeten Sängerdarsteller wie Alfred Muff. Von den beiden grossen lyrischen Hauptpartien wird er freilich überstrahlt. Emily Magee versammelt in ihrem intensiven Sopran alles Charisma der mitleidenden und liebenden Frau. Das gipfelt mit dem letzten Solo der Ellen («My broidered anchor ...») in einem innig verhaltenen Arioso, das aus der Sphäre der Passionsmusik Bachs zu stammen scheint.
Ihrer so in sich gefestigten Menschlichkeit antwortet die offene, von Wahnsinn und gewalttätigen Ausbrüchen bedrohte von Peter Grimes: Ihr gibt Christopher Ventris packende Bühnenpräsenz mit einem expressiven Tenor, den er vom gehaltenen Piano bis zum Quasi-Schrei imponierend im Griff hat. Auch darstellerisch impulsiv bleibt er dieser Figur, die zu den ganz grossen Gestalten der Opernbühne gehört, nichts schuldig.
Bei allem Verdienst dieses begeisternden Ensembles: Entscheidenden Anteil an der Intensität des Bühnengeschehens haben das Orchester und der Dirigent der Aufführung, Franz Welser-Möst. Die sechs Zwischenspiele bieten breiten Raum zur sinfonischen Entfaltung und werden vom Orchester wuchtig und filigran in Szene gesetzt: Da wächst der Bühne die Meeresatmosphäre, die Gewalt des Sturms, der Glanz der weiten Flächen zu, Licht und Himmel, all das, was «Peter Grimes» auch ohne gemalte Prospekte und Boote zum Seestück macht. Zugleich ist Welser-Mösts dramatisch sensibles Dirigat ein Garant dafür, dass das Klanggeschehen sich nicht im Impressionistischen genügt, sondern die drängende Expressivität der Aufführung steuert.