Das Nahen der Nackten

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (05.04.2016)

Macbeth, 03.04.2016, Zürich

Giuseppe Verdis Shakespeare-Oper «Macbeth» neu am Opernhaus Zürich

Seitdem Andreas Homoki Chef des Opernhauses Zürich ist, folgt dieses in mancher Hinsicht der Ästhetik der Komischen Oper Berlin, welcher Homoki bis 2012 als Intendant vorstand. Gewiss: Das sängerische Niveau ist in Zürich höher als am dritten Opernhaus von Berlin, und man folgt nicht der alten Felsenstein-Devise, die Werke grundsätzlich auf Deutsch zu singen.

Doch manche Regisseure und Dirigenten hat man in Berlin erlebt, bevor sie nach Zürich kamen. So ist Herbert Fritsch, der Purcells «King Arthur» spektakulär auf die Zürcher Bühne brachte (BaZ vom 29.??Februar), Stammregisseur in Berlin; die jüngste Zürcher Produktion, Verdis «Macbeth» nach dem Drama von Shakespeare, die am Sonntag Premiere feierte, wurde gar vom derzeitigen Intendanten der Komischen Oper, Barrie Kosky, in Szene gesetzt. Zuvor hatte Homoki an seiner früheren Wirkungsstätte in Berlin das Musical «My Fair Lady» inszeniert. Intendanten tauschen gern die Häuser, so wie andere Leute Neujahrswünsche austauschen.

Regisseur Kosky kann kaum warten und steuert gleich auf den Plot der Story zu: auf den wandernden Wald von Birnam. Die Aktion beginnt noch während der Ouvertüre mit einer Schar Menschen, die sich unerbittlich dem am Boden liegenden Feldherrn Macbeth nähern. Sie tragen keine Äste, um wie Bäume zu erscheinen, suggerieren also nicht Natur, sondern sind
Natur – es sind nackte Hexen, männliche, weibliche, doppelgeschlechtliche. Sie befreien Macbeths Körper von den toten Krähen, die ihn bedecken.

Alles ist dunkel: die Bühne, die eine Art Tunnelflucht mit Lämpchen andeutet, die Todesvögel, die Kleider. Wenn Macbeth mit seiner Frau nach hinten geht, erinnert das ein wenig an den Tramp Charlie Chaplin auf seinem Weg ins Ungewisse. Und wie der Tramp wird Macbeth am Ende nicht sterben, obwohl ihn Macduff unter lautem Röcheln und Stöhnen erdolcht hat, sondern auf einem Stuhl sitzen und verständnislos im Unterhemd dem kriegerischen Treiben der verfeindeten Heere zuschauen. Er mag sich denken: Was hat das alles mit mir zu tun?

Ein Todesstück

Trotz solchen Abweichungen vom Text ist Koskys Inszenierung im Grunde traditionell. Macbeth ist der ewig überforderte Kriegsherr, seine herrische Lady treibt ihn gnadenlos zur Grausamkeit an. Dem Stück wird nichts von seiner Schwärze genommen. Die leere schwarze, sich nach hinten verengende Einheitsbühne von Klaus Grünberg ist eine Spielfläche, die alles Handeln nach vorn an die Rampe zwingt. Hier bleibt einem nichts verborgen, und das (reichlich übertriebene) Stöhnen und Seufzen fegt noch den letzten Zweifel daran hinweg, dass wir es mit einem tiefschwarzen Todesstück zu tun haben.

Die grossartig hingebungsvolle, stimmgewaltige Tatiana Serjan als Lady Macbeth und der mit viel baritonaler Kraft und guter Diktion aufwartende Markus Brück führen das aus lauter Gastsängern bestehende, ausnahmslos kompetente Stimmenensemble an.

Im Orchestergraben agiert ein Musiker, dem der Ruf vorauseilt, unter ständigem Hochdruck zu arbeiten. Dieser Teodor Currentzis – Opernchef im sibirischen Perm und bisher unter anderem mit einer hörenswerten Da-Ponte-Trilogie von Mozart auf CD hervorgetreten – holt aus dem Philharmonia-Orchester ein Höchstmass an Dramatik und Klangschärfe heraus. Selten hat man das Zürcher Opernorchester so staccato-­intensiv und glühend, so bassbedrohlich gehört. Die von Ernst Raffelsberger einstudierten Chöre stehen dem Orches­ter kaum nach, wobei die Nackten deutlich weniger beherzt klingen als die Angezogenen. Vielleicht frieren sie auf der offenen Zürcher Opernbühne.