Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (10.05.2016)
«Pelléas et Mélisande» am Opernhaus Zürich
Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov erinnert sich an Claude Debussys Faible für Edgar Allan Poes finstere Seelenerkundungen und legt die Beteiligten in «Pelléas et Mélisande» auf die Couch.
Er trieb sein Unwesen, während nebenan die Welt zu Gast war. Im Chicago der Weltausstellung von 1893 erfreute man sich an so bahnbrechenden Neuerungen wie dem Reissverschluss, der Geschirrspülmaschine und einem Apparat zur Herstellung von Popcorn. Auch Auguste Rodins erotisches Meisterwerk «Der Kuss» war – zumindest für den männlichen Teil der Weltbevölkerung – hinter einem Schleier zu bestaunen. Doch Henry Howard Holmes hatte es nicht mit Schleiern und Küssen: Er lockte ahnungslose Messebesucherinnen in sein Horror-Hotel «The Castle» und mordete sie dort mit Säure, Beil und Gas. Ein Stoff, recht nach dem Geschmack von Arthur Conan Doyle, dem Erfinder des «anderen» Holmes; oder auch von Edgar Allan Poe, dem Grossmeister des literarischen Grusels, der freilich schon 1849 unter unklaren Umständen zu Tode gekommen war. Einer der treuesten Leser Poes wiederum – und das will auf den ersten Blick denn doch kaum zusammengehen – war der Franzose Claude Debussy.
Dysfunktionale Familie
Zwischen 1903 und 1916 plante Debussy allein zwei weitere Opern nach Stoffen Poes: «Le Diable dans le Beffroi» und «La Chute de la Maison Usher», beide leider unvollendet. Das Göttinger Symphonie-Orchester hat die Fragmente kürzlich unter seinem entdeckungsfreudigen Leiter Christoph-Mathias Mueller in Aufführungsfassungen eingespielt (Panclassics PC 10342): eine unerwartete Facette im Schaffen dieses angeblich so französischen Komponisten. Mit einem kühnen Gedankenexperiment riskiert nun freilich auch die Zürcher Neuinszenierung von «Pelléas et Mélisande», Debussys einziger vollendeter Oper, einen Blick in die finstersten Abgründe der menschlichen Seele.
Was wäre, so fragt sich der Regisseur Dmitri Tcherniakov bei seiner Produktion am Opernhaus, wenn es Debussy, entgegen landläufiger Meinung, nicht so sehr der üppige Symbolismus, die fliessenden Formen und das beredte Raunen in den Versen von Maurice Maeterlinck angetan hätten, als er just zur selben Zeit, im Mai 1893, erstmals dessen enigmatisches Liebesdrama um die zarte Mélisande und Pelléas, den Träumer, auf der Bühne sah? Wenn er vielmehr mit einem an Poe geschulten, geradezu kriminologischen Scharfblick die Indizien erkannt hätte für ein Verbrechen, das sich hinter all dem betörenden Metaphern-Geklingel verbirgt?
Tcherniakov spielt diese Idee in einer Art geschlossener Versuchsanordnung durch: Die Burg von Allemonde ist in dem (wie immer von ihm selbst entworfenen) Bühnenbild zwar kein Castle mit Falltüren und Säurebädern; doch der Horror entwickelt sich darin nicht weniger heimtückisch. Zunächst nämlich gar nicht. Wir sollen uns sicher wähnen als Zuschauer, alles erscheint in bester Ordnung. Wir blicken in das moderne, etwas unterkühlte Haus einer Dynastie von Psychologen und Analytikern – man kennt dergleichen aus einschlägigen Serien. Vor Golaud, dem dynamischen, unbedingt Vertrauen einflössenden Seelenarzt, hat schon der Patriarch Arkel (Brindley Sherratt) die grossen und kleinen Blessuren der Psyche geheilt. Doch über alldem ist in dieser feinen Familie offenkundig der innere Zusammenhalt zerbrochen. Sie ist so dysfunktional, wie kein Lehrbuch es plastischer schildern könnte: Der junge Yniold (Damien Göritz), Golauds Sohn aus erster Ehe, flüchtet sich mit Kopfhörern und einem kindischen Bärenkostüm in Gegenwelten; Golauds Mutter Geneviève (Yvonne Naef) nimmt es vor allem mit der Schweigepflicht genau; und Pelléas' Vater (Reinhard Mayr) stromert als seniler Hausgeist durch das Wohnzimmer.
Trautes Heim
Wie so oft erkennen Ärzte die eigene Krankheit zuletzt. Zumal Golaud noch aus einem anderen Grund kein Interesse hat an allzu tiefen Einblicken in sein Gefühlsleben. Er hat sich nämlich mindestens einer Todsünde unter Analytikern schuldig gemacht: In dem Bestreben, Mélisande aus dem dunklen Wald ihres Ichs zu retten, hat er sich nicht bloss in seine Patientin verliebt, er hat sie zum Zwecke permanenter Seelenzergliederung im Wortsinne «heimgeführt».
Doch dieses Heim, das zeigt sich bald, ist nicht traut; es wird darin viel hinter geschlossenen Gardinen und Falttüren geredet – eine davon teilt den kapitalen Salon mit zwei geschwungenen Analyse-Liegen vom Wartezimmer. Und wie zum Überfluss scheint es auch noch Kameras und Videoüberwachung zu geben. Da ist es kein Wunder, dass die intime Annäherung zwischen Mélisande und Pelléas, Golauds Halbbruder, nicht lange verborgen bleibt.
Die beiden begegnen einander mit einer gleichsam igelhaften, unkörperlichen Übersensibilität – Corinne Winters und Jacques Imbrailo, beide Debütanten am Opernhaus, spielen und singen dies mit berührendem Feingefühl und einander gänzlich zugewandter Empathie. Pelléas begreift, dass eine schwere, unausgesprochene Traumatisierung Mélisande daran hindert, ihn auch körperlich zu lieben. Statt weiter in sie zu dringen, wie es Golaud mit wachsender Ungeduld und schliesslich kaum noch beherrschter Aggression versucht, weist Pelléas ihr einen Ausweg: Er träumt sich mit ihr auf der Analyse-Couch fort in das Land der Phantasie.
Je weiter sich Mélisande vor Golaud verschliesst – und Winters spielt dies mit bedrängender Glaubwürdigkeit –, umso stärker bröckelt die Fassade von Golauds ärztlicher Wohlanständigkeit. Kyle Ketelsen gelingt bei seinem Rollen-Einstand sogleich ein beeindruckend ausgestalteter Charakter-Wandel: vom seriösen Sympathieträger zum unbeherrschten Gewaltmenschen, dem das Äusserste zuzutrauen ist. Noch überzeugender als in den mit viel Emphase vorgetragenen Ausbrüchen gegen Ende wirkt Ketelsen in den Augenblicken gespielter oder aufrichtig ersehnter Anteilnahme, die indes jederzeit in Brutalität umschlagen können.
Tatsächlich deutet Tcherniakov in einer schwer zu erkennenden Video-Einblendung auf dem Wohnzimmer-Fernseher an, dass Golaud sogar Ursache und Auslöser für Mélisandes Trauma sein könnte. Ja, womöglich ist sie nicht einmal die erste Patientin, an der sich der Herr Doktor in dieser Weise vergreift. Zum Glück belässt es der Regisseur bei der Andeutung – die Intensität der aufbrechenden Emotionen lässt ohnehin keinen Zweifel, dass es mehr als eine Leiche im Keller dieser feinen Familie gibt. Ob es reale Tote sind oder die kaum minder gestraften Opfer eines fehlgeleiteten Helfersyndroms, mag jeder für sich entscheiden.
Beredt gemachte Stille
Erstaunlicherweise harmoniert Tcherniakovs Konzept, das jedes vordergründige Illustrieren der Sprachbilder Maeterlincks verweigert, weitgehend mit der Musik. Denn Debussys sensitive Klangskizzen formen selbst einen Bewusstseinsstrom, der vom Unaussprechlichen kündet. Strukturiert wird er in erster Linie durch die dichte Folge der Szenen und Akte, und Tcherniakov zeichnet dieses Formgerüst betont schematisch durch Lichtwechsel und Einblendungen der jeweiligen Aktnummer nach.
Der Gastdirigent Alain Altinoglu, seit Jahresbeginn Musikchef in Brüssel, und die Philharmonia Zürich brauchen dagegen einige Zeit, um die nötige Absichts- und Schwerelosigkeit für ebenjene «eloquents silences» zu finden, die Debussy in seiner Oper hören wollte. Doch in den besten Momenten gelingt dies wirklich: Der Klang beginnt zu schweben, aus harten Bläserakkorden werden Farbreize, aus dem Tremolo der Geigen entspringen Lichtbögen, im Unisono der Kontrabässe antwortet ein unheilvolles Dräuen. Magisch und beredt klingt diese Musik – nur eigentlich viel zu schön für all das Schreckliche, was hier verhandelt wird.