Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (10.05.2016)
«Pelléas et Mélisande» im Zürcher Opernhaus spielt im Haus eines Psychotherapeuten, der sich zum Psychopathen wandelt.
Und wieder beginnt die Neuentdeckung eines Schlüsselwerks im ansonsten durchaus regiezentrierten Zürcher Opernhaus im Orchestergraben: Vor einem Monat hatte Teodor Currentzis in idealem Einklang mit Barrie Koskys Inszenierung die schwarzen Seiten von Verdis «Macbeth» ausgeleuchtet; nun reibt man sich schon nach den ersten Takten von Debussys «Pelléas et Mélisande» die Ohren. Wo ist der ätherisch fliessende Klang hingekommen, den man mit diesem nach einem symbolistischen Schauspiel von Maurice Maeterlinck gestalteten Stück verbindet?
Er ist durchaus da; der französische Dirigent Alain Altinoglu kennt die Tradition, und er verleugnet sie nicht. Aber er erdet und schärft den Orchesterpart mit unverbrauchten Kräften. Wo die Bläser sonst säuseln und sirren, hört man bei der Philharmonia Zürich auch schneidende Töne. Reibungen sind hier Reibungen und nicht bloss irisierende Klangeffekte. Das viel gerühmte Schillern von Debussys Orchestrierung wirkt so nicht esoterisch, sondern auf ziemlich handfeste Weise bedrohlich. Und das Bemerkenswerteste daran ist: Das Werk verliert dadurch kein bisschen von seiner Rätselhaftigkeit.
Dabei geht es auch auf der Bühne konkreter zu und her als sonst. Da gibt es keinen Wald, keine Grotte. Sondern ein Wohnzimmer, hell, kühl, durchdesignt. Die Möbel waren zweifellos teuer, die Vorhänge bewegen sich auf Knopfdruck. Schon während die Zuschauer ihre Plätze suchen, nimmt hinten am Esstisch die Familie Platz, die durch die Ankunft der geheimnisvollen Mélisande aus den Fugen geraten wird. Und da ist sie schon, im schwarzen Kapuzenpulli, den Aussenseiter in der Oper so gerne tragen; ein sichtlich traumatisiertes Mädchen, das fast zu Tode erschrickt, als Golaud ihr die (von Elena Zaytseva entworfene) Jacke abnehmen will.
Exakt neben der Spur
Stopp, Licht aus, Leuchtschrift an: «Der Psychotherapeut Golaud hat sich in eine Patientin verliebt und nimmt sie mit nach Hause, um ihre Behandlung fortzusetzen», liest man – und erschrickt fast so sehr wie Mélisande zuvor. Braucht es tatsächlich eine Gebrauchsanweisung für diese Aufführung? Traut der Regisseur seiner Arbeit so wenig, dass er sie erst erklären muss? Aber Fehlalarm, die Ansage erweist sich als überflüssig: weil sich der Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakow auch bei seiner zweiten Zürcher Inszenierung (nach Janá?eks «Jenufa») wieder als kluger Psychologe erweist. Er behauptet die Beziehungen zwischen den Personen nicht nur, sondern zeigt sie. Und im Unterschied zu Golaud, dem zum jagenden Psychotherapeuten mutierten Jäger, scheint er sogar Mélisande zu verstehen.
Die liegt inzwischen auf der Couch und verrät mit verängstigten Blicken und dem dunkel glühenden Sopran der Amerikanerin Corinne Winters, dass sie Schlimmes erlebt hat. Kein Zweifel, sie sieht in diesem kahlen Raum den Wald, in dem sie sich verirrt hat. Während Golaud über ihren Andeutungen, Halbsätzen und Nicht-Antworten zunehmend die Fassung verliert, hört und sieht die Zuschauerin fasziniert zu: Exakter als so kann eine Sängerin nicht neben der Spur bleiben.
Eindrücklich und beängstigend
Stark ist auch der Golaud von Kyle Ketelsen, der den Zürchern schon als Méphistophélès in Gounods «Faust» gezeigt hat, dass ihm dunkle Charaktere liegen. Wie er sich hier vom Psychotherapeuten zum Psychopathen wandelt; wie er seinen Bassbariton kontrolliert und dann wieder austicken lässt; wie er mit dem durchgestreckten Rücken dessen, der alles im Griff hat, vor allem Mélisande im Griff haben will: Das ist so eindrücklich wie beängstigend.
Golauds Krankheit heisst Eifersucht, Eifersucht auf seinen Halbbruder Pelléas in der Gestalt des Südafrikaners Jacques Imbrailo, der Mélisande so viel näher zu stehen scheint. Auch Pelléas ist, wie alle in diesem Haushalt, psychotherapeutisch geschult, und im Unterschied zu Golaud hat er Zugang zu Mélisandes Fantasiewelten. Das Schiff, der Nebel, die Leuchttürme – mit hypnotischen Fertigkeiten führt er sie durch ihre Träume, wobei er selbst in sicherer Distanz bleibt. Liebe? Keine Spur. Wenn er Mélisande nahekommt, ist das ein fachlicher Triumph, ein gewonnenes Spiel. Die Wärme in seiner Stimme klingt professionell, mit gezielter Geschmeidigkeit reagiert er auf die ihre. Authentisch wirkt nur sein smarter Egoismus.
Wer ist Yniold?
Das alles geht so verblüffend gut auf, ist so konsequent durchdacht und durchgeführt, dass man in der Pause von einem Konzeptabend sprechen müsste – wenn da nicht das Orchester wäre, das sich weit freier und überraschender gebärdet als das Personal auf der Bühne. Im Graben ist das Rätsel der Mélisande viel mehr als eine Psychose, und auch das Verhältnis zwischen den Halbbrüdern ist nicht so einfach zu diagnostizieren. Debussys Partitur lässt sich nicht auf die Couch legen, man kommt ihr mit einer professionellen Analyse ebenso wenig bei wie der Figur der Mélisande. Zwar ist die ganze Musik aus der Textdeklamation entwickelt; aber was sie erzählt, lässt sich nicht in Worte und schon gar nicht in Konzepte fassen.
Altinoglu weiss das, und Tcherniakow ist klug genug, um auf ihn zu hören. Je weiter der gut dreistündige Abend fortschreitet, desto fliessender werden auch auf der Bühne die Konturen, desto rätselhafter verwirren sich die Verhältnisse zwischen den Figuren. Die per Video (Tieni Burkhalter) generierten Wetterlagen hinter dem grossen Fenster sind nach der Pause nicht mehr ganz so leicht zu deuten. Und warum trägt Golauds Sohn aus erster Ehe, der von Damien Göritz hinreissend gesungene Yniold, plötzlich Mélisandes Kleid? Ist er etwa auch ihr Sohn, und das Grauen, das sie erlebt hat, war schon damals von Golaud verursacht?
Brindley Sherratts revitalisierter Bass
Man erfährt es nicht, zum Glück. Auch nicht, warum Golauds Mutter (Yvonne Naef) nicht eingreift. Oder weshalb Pelléas plötzlich doch noch Gefühle entwickelt. Irgendwann verschwindet er aus der Geschichte, ohne dass er (wie im Libretto vorgesehen) von Golaud ermordet würde. Dafür tritt nun König Arkel in Aktion, der zuvor mit krummem Rücken und zu hohem Hosenbund den psychotherapeutischen Ruhestand abgesessen hatte: Brindley Sherratt gibt sich darstellerisch mühelos ein paar Jahrzehnte älter, als er ist, sein charismatischer Bass klingt wie revitalisiert von der neuen Herausforderung.
Aber auch er kann Mélisande nicht mehr retten. Sie hat Tabletten geschluckt, viele Tabletten. Wenn sie schon im Leben nicht wegkommt aus diesem verdammten Haus, muss sie halt zu härteren Mitteln greifen. Im Irgendwo verdämmern kann sie dann in anderen Aufführungen wieder.