Cornelia Ueding, Deutschlandfunk (09.05.2016)
Neue Seiten von "Pelléas et Mélisande" in Zürich
Das Schauspiel "Pelléas et Mélisande" von Maurice Maeterlinck erzählt die Geschichte einer dramatischen Dreiecksbeziehung. Der Komponist Claude Debussy vertonte das Werk, das 1902 zur Uraufführung kam. In Zürich hat Dmitri Tcherniakov eine Neuinszenierung gewagt - und das Beziehungsgeflecht der Liebenden detailliert enträtselt.
Debussys düster grundierte, zugleich opulente und minimalistisch verlöschende Klänge signalisieren, dass es hier nicht mehr um das spätromantische Weiterspinnen eines symbolistisch-mythischen Erzählfadens geht. Im Zentrum von Dmitri Tcherniakov's ebenso kluger wie beklemmend intensiver Neuinszenierung steht die Abrechnung mit dem diskreten Charme der Bourgeoisie.
Noch bevor der erste Ton erklingt, steht als ironische Vorinformation in großen Letten weiß auf schwarz über dem Bühnenportal:
"Der Psychotherapeut Golaud hat sich in eine Patientin verliebt. Er nimmt sie mit nach Hause, um sie dort weiter zu behandeln."
Kühles Designer-Ambiente
Statt düsterer Wälder, tiefer Brunnen und geheimnisvoller Grotten - kühles Designerambiente. Der Lebensraum des sichtbar erfolgreichen Seelenarztes, für den Natur und magische Orte nichts als Vorstellungshilfen für seine "Fälle" sind. Flachbildüberwachungsmonitor, elegant geschwungene weiße Liegen und eine schrecklich nette Familie ergänzen das Bild. Dieser Clan aus Großvätern, Vätern und Söhnen wird sich nun des interessanten weiblichen Neuzugangs annehmen.
Golaud heiratet das scheue, erkennbar traumatisierte Mädchen. Pelléas, sein jüngerer Halbbruder, kommt später dazu und verliebt sich weniger in sie als in die ungewohnten Regungen, die er plötzlich verspürt.
Man erfährt nicht, was so traumatisierend für Mélisande gewesen ist. Aber diese Inszenierung zeigt: Ihre eigentliche Tragödie beginnt erst jetzt. Das Schicksal kommt nicht von oben – es besteht aus den Mitgliedern der ehrenwerten Gesellschaft, in die sie geraten ist: Dem bohrenden Forschungseifer des Seelenarztes verschließt sich Mélisande, erstarrt bei jeder seiner Berührungen. Oder rennt weg vor dieser brutalen Egomanie in der Maske professioneller, sozial verträglicher Menschlichkeit.
Verführerisches Konkon
Pelléas dagegen umspinnt Mélisande spielerisch mit einem verführerischen Kokon aus Fantasien und Märchengespinsten – und spielt mit ihren Gefühlen. Als Mélisande ihm ihre Liebe gesteht und in diesem einzigen Moment der Sprache des Herzens das Orchester schweigt, inszeniert Pelléas diese Situation in Zürich ebenso selbstverliebt wie zugleich kontrolliert: Nach rauschhafter Liebesbeteuerung schaut er eben noch mal versteckt auf die Uhr, um seinen Abgang nicht zu verpassen.
Zurück bleibt ein Häufchen liebes-malträtiertes Elend. Der Psycho-Erzieher Golaud nimmt diese Situation zum Anlass, die einzige ihn interessierende Wahrheit – ob etwas Schuldhaftes vorgefallen ist oder nicht – aus ihr heraus zu prügeln.
Bis sie stirbt. Die bislang im Hintergrund am Esstisch versammelten Mitglieder dieser feinen Gesellschaft gruppieren sich um das Bett der Sterbenden und reden von Sinngebung.
Tcherniakov hat in enger Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Alain Altinoglu diese als geheimnisvoll und rätselhaft geltende Geschichte entmystifiziert. Jeder stellt Fragen - aber keiner bekommt eine Antwort. Es wird viel geredet – doch es gibt keine wirklichen Gespräche. Keiner spricht von sich, alle stellen kühlen Herzens Mutmaßungen an: über andere. Von Empathie keine Spur. Klänge die zu versickern scheinen, Stimmen, die zu ersticken drohen, expressive Aufschwünge, die abreißen – Altinoglu verzichtet auf jeden biegsamen, schönen Orchesterklang, der versöhnlich, gar hoffnungsvoll stimmen könnte.
Detaillierte Enträtselungen komplizierter Beziehungen
Detailliert enträtselt diese von hervorragenden Sängern getragene Aufführung in den feinsten stimmlichen Nuancen und körperlichen Ausdrucksformen, wie diese Menschen miteinander umgehen – und wie sich diese emotionale Kälte "vererbt".
Der jüngste Spross der Sippe, Yniold, beobachtet genau. Am Ende zeigt er lässig, dass er das Zeug hat, in die Fußstapfen dieser gnadenlos Kultivierten zu treten: Beiläufig greift er zweimal die Hand der Toten, lässt los, sodass sie kraftlos wieder aufs Bett fällt. Diagnose: Exitus. Dreht sich um und schaltet das Überwachungsvideo seines Vaters ein, auf dem die Qualen der lebendigen Mélisande dokumentiert sind. Die vermeintliche Rettung als Anfang vom Ende – diese Inszenierung setzt jenseits von Betroffenheit oder gar Rührung gemischte Gefühle von kalter Empörung und leidenschaftlicher Distanz frei und zeigt die gnadenlose Seite unserer schönen neuen Décadence-Welt. Ganz ohne Pathos.