Hetzjagd auf einen Outsider

Fritz Schaub, Neue Luzerner Zeitung (13.12.2005)

Peter Grimes, 11.12.2005, Zürich

Der Bregenzer Festspiel-Intendant bringt starke Seebilder ins Opernhaus Zürich: Musik und Szene machen die Oper «Peter Grimes» zum beklemmenden Drama.

Selten genug tritt der Fall ein, dass Inszenierung, Musik, Sänger so miteinander harmonieren, dass daraus ein Gesamtkunstwerk entsteht, das unter die Haut geht. Bei der Premiere von Benjamin Brittens «Peter Grimes» war dies wieder einmal der Fall. Die Handlung des nach einer Verserzählung des englischen Poeten George Crabbe entstandenen Librettos ist einfach. Der Fischer Peter Grimes beschäftigt Knaben als Hilfskräfte. Einer stirbt auf hoher See: Bei einer Gerichtsverhandlung wird Peter Grimes vom Verdacht, am Tod des Jungen schuldig zu sein, freigesprochen. Aber das Misstrauen der Bewohner von Borough verfolgt Peter Grimes weiterhin, und als zum zweiten Mal ein Junge umkommt, kommt es zu einer regelrechten Hetzjagd auf den Fischer. Dieser sieht nur noch einen Ausweg: im Selbstmord.

Allgemeingültige Parabel

Nach Brittens Tod 1976 wollten viele in diesem Stück ein autobiografisches Selbstporträt des Komponisten und dessen homosexueller Neigungen sehen, die damals noch unterdrückt werden mussten. Das Werk geht aber über das Drama eines Menschen, der durch seine Homosexualität zum Aussenseiter gestempelt wird, weit hinaus. Die Sexualität bleibt in der Oper ausgeklammert, und stattdessen tritt eine Problematik ins Zentrum, die jedermann in seiner allernächsten Umgebung erfahren kann: Wie gehe ich mit einem Menschen um, der mir nicht sympathisch ist oder durch sein Anderssein sich vom Gros abhebt?

Aus diesem Grunde ist «Peter Grimes» auch nicht auf eine «Aktualisierung» angewiesen. Auch nicht bei Regisseur David Pountney, der als Intendant der Bregenzer Festspiele mit grossformatigen Bühnenwirkungen bestens vertraut ist und auch hier mit expressiven Naturbildern arbeitet. So ist das Geschehen in Zürich realistisch in der düsteren Atmosphäre einer englischen Küstenlandschaft angesiedelt, und die Kostüme (Marie-Jeanne Lecca) sind von Malereien des schwedischen Dramatikers August Strindberg inspiriert. Allerdings ist der Hafenpier, den Robert Israel vor einem Hintergrund mit zwei Welt-Halbkugeln entworfen hat, deutlich auf den Gegensatz zwischen der Dorfgemeinschaft und dem Einzelnen ausgerichtet: Ein Teil des Chors hängt während der ganzen Vorstellung an verschieden hohen Stützen und ist dauernd mit seiner Alltagsarbeit beschäftigt; der Einzelgänger Grimes aber wird wie ein gehetztes Tier immer mehr in die Enge dieser halb symbolisch-abstrakten Pier-Landschaft getrieben. Die personelle Überfülle ist vorab im ersten Akt, wo die Oper wie ein Konversationsstück anhebt, nicht unproblematisch: Man verliert die Übersicht und erkennt nur schwer, wer jetzt gerade in Aktion ist.

Steigerung nach dem ersten Akt

Aber im weiteren Verlauf wird die Konfliktsituation immer stärker auf ihren Kern fokussiert, und je mehr die Oper an Klangvielfalt, an Dissonanzhärte und Ausdruckskraft gewinnt, desto mehr steigern sich der Chor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger), das von Franz Welser-Möst unerbittlich auf dramatische Zuspitzung hin geleitete Orchester der Oper Zürich und die Sänger, allen voran Christopher Ventris in der Titelrolle und Alfred Muff als Captain Balstrode.

Ventris gewann seinem anfänglich etwas stumpfen Heldentenor immer mehr Facetten und expressive Kraft ab, und Muff verkörperte einen Captain, der am Schluss betroffen und stumm zurückbleibt, während seine Mitbewohner ungerührt sich wieder dem Alltag zuwenden. Die beiden heimsten zusammen mit Emily Magee, die als Lichtgestalt Ellen Orford die Stimme der Menschlichkeit wunderbar verkörperte, auch den grössten Applaus des sichtlich beeindruckten Premierenpublikums ein.