Sigfried Schibli, Basler Zeitung (10.05.2016)
Claude Debussys Meisteroper «Pelléas et Mélisande» in ungewohnter Sicht am Opernhaus Zürich
Der Regisseur hat es ganz, ganz gut gemeint mit uns ahnungslosen Opernfreunden. Im Programmheft hat Dmitri Tcherniakov eine Gebrauchsanweisung für seine Zürcher Inszenierung der Oper «Pelléas et Mélisande» von Claude Debussy veröffentlicht und zur Sicherheit das Wesentliche als ersten Übertitel auf die Bühne projiziert: Mélisande ist eine Patientin des Psychoanalytikers Golaud, der sich in sie verliebt und sie aus der Klinik zu sich nach Hause genommen hat. Die Todsünde einer seriösen Therapie: die Überschreitung der Grenzen zwischen Arzt und Patient.
Es gibt daher in der Zürcher Aufführung kein Schloss und keinen Brunnen, keinen Turm und keine Grotte. Das Ganze spielt im modernistischen Salon von König Arkel und seiner Patchwork-Familie, zu der die Halbbrüder Golaud und Pelléas gehören. Durch ein Fenster sieht man den Lauf des Tages, Wind und Wetter.
Bedenkt man, dass in Maurice Maeterlincks Drama im Grunde alle Verirrte und Verwirrte sind, so ist das gewiss keine unsinnige Grundidee. Der Jäger Golaud irrt durch den Wald und findet ein Mädchen ohne Herkunft und ohne Ziel. Es spricht einiges dafür, dass sie schwer traumatisiert ist, vielleicht durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Der Missbrauch geht weiter: Golauds Halbbruder Pelléas wird durch seine Liebe zu Mélisande in tiefste Verwirrung gestürzt, Golaud erweist sich als Sadist, selbst König Arkel geht dem Mädchen an die Wäsche. Im Schloss, in das Golaud Mélisande als Braut führt, sind alle krank oder emotional gestört.
Krasse Widersprüche
Am Anfang sehen wir Golaud, der wie ein Psychiater der auf einer Couch liegenden Mélisande zuhört und sich Notizen macht. Das Problem ist nur: Erstens kann der Regisseur diese Grundkonstellation nicht durchhalten, und zweitens widerspricht der gesungene Text dem, was man auf der Bühne sieht, auf eklatante Weise. Dass Mélisande im Text blond und auf der Bühne schwarzhaarig ist, mag noch angehen. Aber ein Psychiater, der seine Therapie mit dem Satz «Ich finde aus diesem Wald nicht mehr heraus!» beginnt, ist schlicht unglaubwürdig. Er bräuchte selber psychiatrische Hilfe.
Gewiss steckt der Text von Maurice Maeterlinck voller Symbole, die man tiefenpsychologisch deuten kann – vom Turm, dem tiefen Brunnen und der geheimnisvollen Grotte bis zum Haar, in das man sich verstrickt. Aber diese werden hohl, wenn man sie auf der Bühne ihrer sinnlichen Erscheinung beraubt und bloss noch als Wortprotokolle stehen lässt. Vieles wirkt banaler, ja plumper als im originalen Text.
So ertappt Golaud seine auf einem Tisch liegende Frau Mélisande auf frischer Tat mit Pelléas, während die Turmszene im Originaltext alles nur kunstvoll andeutet. Mehrmals greift der Regisseur zu einem Trick, damit der Text überhaupt nachvollziehbar bleibt. So etwa, wenn Pelléas und Mélisande am Ende des zweiten Aktes («Vor einer Grotte») drei schlafende Greise sehen. In Tcherniakovs Inszenierung muss Pelléas seine Geliebte hypnotisieren, damit diese Vision glaubhaft wird, denn sie befinden sich ja in der Wohnung, und da gibt es keine Greise. Man ertappt sich beim Gedanken, lieber eine traditionelle, aber der Fantasie Raum gebende Umsetzung sehen zu wollen.
Starke Männerstimmen
Am Zürcher Opernhaus ist eine ähnliche Tendenz wie an anderen Theatern zu beobachten: Es gibt keine Sänger-Ensembles mehr, nur noch Gäste, die jeweils für eine Produktion engagiert werden. In Zürich ist dies an erster Stelle der Golaud von Kyle Ketelsen, ein kräftiger Bassbariton, der die vielen Facetten dieser bedeutenden Partie zwischen Sprechgesang und Arioso gewinnend realisiert. Pelléas wird von Jacques Imbrailo mit fast schon tenoralem Schmelz gesungen, wobei sein Bariton im ekstatischen vierten Akt leicht brüchig wurde. Eine sängerisch wie schauspielerisch imponierende Besetzung ist Brindley Sherratt als markiger König Arkel.
Yvonne Naef singt mit überaus wortdeutlichem Alt die Partie der Mutter Geneviève. Corinne Winters verkörpert die weibliche Hauptpartie der Mélisande – ja, und fast möchte man der Amerikanerin zurufen: mehr Mut zum Forte! Gewiss ist die Verkörperung einer Frau, die an ihrem gebrochenen Herzen leidet und stirbt, kein Anlass für triumphale Fortissimo-Arien. Aber Corinne Winters übertreibt in Sachen morbider Zerbrechlichkeit. Oft hört man sie nur, weil das Philharmonia-Orchester unter Alain Altinoglu so ungemein differenziert und zurückhaltend begleitet und die vielen Schichten von Debussys Klangfarbenkunst subtil freilegt, ohne jemals die Stimmen zu übertönen.
Musikalisch hat das Zürcher Opernhaus zum hundertsten Todesjahr von Debussy also einiges zu bieten. Szenisch aber muss man mehr als nur ein Fragezeichen hinter diese Produktion setzen.