Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (10.05.2016)
Wäre da nur nicht der Text! Am Opernhaus Zürich versucht Dmitri Tcherniakov Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» als Stück über gescheiterte Psychoanalyse zu deuten.
Kein Wald zum Verirren, keine tiefe Brunnen und kein dunkles Schloss: Im Opernhaus Zürich hat Dmitri Tcherniakov, der 2012 die Direktion von Intendant Andreas Homoki auch als Regisseur und Bühnenbildner mit «Jenufa» eröffnet hatte, statt den mittelalterlich düstern Orten von Maurice Maeterlincks Drama und Claude Debussys Oper «Pelléas et Mélisande» eine helle, grossbürgerliche Villa gestellt. Vier Generationen von Psychologen wohnen hier.
Im stummen Prolog bringt der eine ein seltsames Mädchen aus der Klinik mit, das in seiner schwarzen Kluft mit Springerstiefeln aus einer andern Welt kommt und bei der ersten versuchten Berührung ihres Psychiaters die Oper mit seinem Erschrecken in Gang setzt.
Das Publikum flieht
Das Mädchen ist Mélisande, der Psychiater Golaud. Er bringt seine offenbar traumatisierte Patientin nach Hause. Die Handlung ist geheimnisvoll, vieles bleibt offen – symbolistisch auch die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert. So sind auch die Orte in der Oper gemeint: Der Wald, in dem Golaud Mélisande findet und heim nimmt, das Schloss und der König Arkel und Geneviève – die Brindley Sherratt und Yvonne Naef hervorragend singen: nicht als abgehalfterte Alte, sondern mit Stimme – und auch Bruder Pelléas und Sohn Yniold (Damien Göritz vom Tölzer Knabenchor).
Symbole wollen entschlüsselt werden, aber auch ihr Geheimnis behalten – sonst hätte man sie ja nicht als Symbole schreiben müssen. In diese Falle tappt die Zürcher Neuproduktion, die einen Teil des Publikums schon in der Pause vertrieb und die die andern beim Premierenapplaus ziemlich reserviert aufnahmen.
Hier ist die Herrscherfamilie ein Nest von Psychologen, die Mélisandes und gegenseitig ihren eigenen Traumata auf den Grund gehen wollen. Mit Gesprächstherapie und Hypnose auf den weissen Designerliegen. Bis Mélisande stirbt.
Eine berührende Mélisande
Wie subtil die junge Corinne Winters das singt und spielt, ist frappierend und berührend. Aber was da genau los ist, steckt nur in der Musik und entzieht sich jedem Realismus. Wenn sie in eine Art Therapiesituation versetzt wird, geht der Regieansatz verblüffend gut auf. Aber immer wenn eine Handlung läuft, wenn Ringe in Brunnen fallen oder Schafe vorbeigetrieben werden, wird's seltsam und gezwungen, und die Musik wird zum Soundtrack.
Da nützt auch die sehr genaue Personenregie dann wenig, die vor allem Kyle Ketelsen als auch stimmlich fulminanten und sensiblen Golaud zu einer faszinierend vielschichtigen Figur macht. Jacques Imbrailos Pelléas bleibt dagegen zu opernhaft und sprachlich wie stilistisch weniger französisch.
Hellwaches Spiel
Sehr französisch klingt dagegen die Philharmonia Zürich unter Alain Altinoglu. Dabei behält der Klang erfreulich viel Biss, verliert sich nicht im Parfumigen. Da wird hellwach gespielt und immer wieder spürbar, worum es in diesem Stück geht.