Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (21.06.2016)
Vincenzo Bellinis «I Puritani» im Zürcher Opernhaus: Das ist der Abend der Sopranistin Pretty Yende, die einen locker über einen wirren Plot und eine ratlose Regie hinwegtröstet.
Wer als Belcanto-Heldin etwas auf sich hält, verbringt mindestens eine Arie im Wahnsinn oder beim Schlafwandeln. In dieser Hinsicht muss man die Elvira aus Bellinis letzter, 1835 in Paris uraufgeführter Oper «I Puritani» als besonders gewissenhaftes Exemplar ihrer Gattung würdigen: Bei ihr hält die geistige Umnachtung während rund zwei Dritteln des Werks an. Während ihre Kolleginnen rasch genesen oder sterben, also einen eindeutigen Zustand zurückgewinnen, bleibt sie stundenlang in diesem mentalen Zwischenbereich – keine leichte Aufgabe für eine Sängerin. Mit nur ein paar flackernden Blicken und irrlichternden Tönen kommt man da nicht weit.
Es braucht mehr, oder konkret: Es braucht eine Sängerin wie die 31-jährige Südafrikanerin Pretty Yende, die als Elvira sowohl ihr Rollen- als auch ihr Zürcher Debüt gab und dafür so viel Applaus erhielt wie sonst nur eine Cecilia Bartoli (die sass übrigens in der Festspielpremiere, genauso wie Edita Gruberova und Elena Mosuc, die das Belcanto-Repertoire an dieser Bühne lange Jahre geprägt haben). Yende ist tatsächlich die ideale Elvira, mit ihrer Stimme und ihrem Charisma, ihrer Kondition und gestalterischen Klugheit. Nach gut drei Stunden klingen ihre Spitzentöne so mühelos und frisch wie zu Beginn, immer neu findet sie in ihren Melodien und Koloraturen die Balance zwischen Klarheit und Geheimnis; sie lässt sich auffangen vom Orchester und dann wieder hochkatapultieren zu allerlei vokalen Kunststücken. Und vor allem schafft sie es, dem Wahnsinn ihrer Figur immer neue, zutiefst persönliche Facetten abzugewinnen.
Die fahlen Töne, die diesen Zustand in der Regel signalisieren, gibt sie schon wenige Takte nach dem grossen Schock auf. Ihr Liebster war unmittelbar vor der lang ersehnten Hochzeit mit einer Gefangenen geflohen – ein klassischer Grund, den Verstand zu verlieren. Aber Bellini und mit ihm Pretty Yende gehen weit übers Klischee hinaus: Elviras Wahnsinn klingt auch nach unendlicher Sehnsucht und Einsamkeit.
An die Rampe, Leute!
Und nichts wird gut, wenn ihr Arturo drei Monate später wieder auftaucht und das Missverständnis klärt. Er hatte sie ja gar nicht betrogen, die Gefangene war die Königin, die es vor dem Tod zu retten galt. Für einen Moment ist Elvira erleichtert, aber von Heilung kann keine Rede sein. Die drei Monate waren wie drei Jahrhunderte für sie, die steckt man nicht einfach weg. Wie Yende da die luzideren und verwirrteren Momente gestaltet, wie sie ihr Gesicht und ihre Stimme verlöschen und wieder aufblühen lässt – das war gleichermassen berührend wie beklemmend.
Wieder einmal wurde da deutlich, was Oper kann: einen hanebüchenen, dazu noch mit plumpen patriotischen Bekenntnissen versetzten Stoff zum Ereignis machen. Figuren, über die man in einem Roman oder im Schauspiel nur den Kopf schütteln würde, zum Leben erwecken. Und emotionale Wahrheiten vermitteln, die sich der heute so angesagten Ironisierung entziehen. Man leidet wirklich mit dieser Elvira und würde ihren Arturo, der so ohne weiteres zum alten Glück zurückkehren möchte, gern ein wenig schütteln.
Die Inszenierung übernimmt das für einen. Die ansonsten stilsichere Barbara Drosihn hat Arturo respektive dem Tenor Lawrence Brownlee das unvorteilhafteste aller Kostüme zugedacht. Und Regisseur Andreas Homoki nimmt mit ebenso gruseligen wie plakativen Bildern Partei für die weiblichen Opfer (zu denen neben Elvira auch die während der Ouvertüre gar nicht nett behandelte gefangene Königin gehört). Die von der Decke hängenden oder aufgehäuften Mädchenleichen mögen Halluzinationen der Elvira und Kommentar gleichzeitig sein; auf der Bühne sind sie nur Puppen.
Ansonsten besteht Homokis Regie diesmal vor allem aus Henrik Ahrs akustisch ziemlich ungünstigem Bühnenbild: einer riesigen, runden, auf einer Drehbühne platzierten Konstruktion, die sich öffnen oder heben lässt – und das Personal an die Rampe drängt, wo es denn auch Rampentheater absolviert. Die Top Five der Gesten sind: die Umarmung; der Ringelreihen; das Herbei- oder Wegrennen; das Auf-den-Stuhl-Klettern; und das verzweifelte Sich-Abwenden. Da ist nichts von der szenischen Dringlichkeit, die Homoki Anfang der Saison, ebenfalls in einem abstrakt gehaltenen Bühnenbild, in Bergs «Wozzeck» erreicht hat. Und viel zu wenig, was die kruden Brüche der Story wenigstens einigermassen kitten würde.
Dafür ist die Musik zuständig, also Generalmusikdirektor Fabio Luisi, der mit «I Puritani» seine Zürcher Belcanto-Reihe fortsetzt. Wie sehr er an dieses selten gespielte Werk glaubt, zeigt schon die Tatsache, dass er keinen der üblichen Striche macht; jede Wiederholung, jedes Intermezzo wird ausgespielt. Eine Anstrengung für die Sänger, ein Glück fürs Publikum: Die Partitur erhält so jene Weite, in der ihre Farben erst recht zur Geltung kommen.
So leicht, so fragil
Luisi und die Philharmonia Zürich gestalten sie nicht als Aquarell, sondern als dramatisches Ölgemälde. Es wird oft laut in dieser Aufführung, aber stets rasch wieder auf ebenso innige Weise still – der Abwechslung und den Sängern zuliebe. Michele Pertusi gibt Elviras Onkel mit so generösem Bass, dass man ihm eine grössere Partie gegönnt hätte. George Petean hat sie und macht mit beweglichem, nur manchmal forciertem Bariton klar, dass Riccardo kein eindimensionaler Opernbösewicht ist: Er hatte Elvira geliebt, sie war ihm versprochen gewesen; deshalb will er nun Arturo so sehr an den Kragen, dass er sich nicht einmal vom Libretto zurückhalten lässt (Homoki verzichtet einmal mehr auf das eigentlich vorgesehene Happy End). Arturo selbst, also Lawrence Brownlee, brilliert mit seiner leichten Höhe, seinem Schmelz, seiner emotionalen Energie. Wie alle anderen Protagonisten ist er auch ein gefragter Rossini-Sänger: Auch deshalb passt diese Besetzung so gut zusammen, auch deshalb klingt dieser Bellini nicht nur elegisch, sondern bemerkenswert spritzig.
Und dann ist da noch der von Pablo Assante vorbereitete Chor, der zwar kaum Bewegungsfreiheit hat (ach, dieses Bühnenbild!), aber klanglich umso grössere Räume schafft. Einladende, festliche oder auch abweisende – dann rennen die Protagonisten gegen den Chorklang wie gegen eine Wand. Oder sie lösen sich davon ab wie zuletzt Elvira, wenn sie in höchsten, leichtesten und gleichzeitig fragilsten Tönen die Wonnen einer Liebe besingt, die sie nie mehr erleben wird. Man hört es und denkt nur noch: Wahnsinn.