Jenseits von Gut und Böse

Herbert Büttiker, Der Landbote (20.09.2016)

Der Freischütz, 18.09.2016, Zürich

Kostüm ist alles. Webers romantische Oper sollte die Saison im Opernhaus eröffnen, aber zu erleben ist eine ästhetisch auf Hochglanz polierte Karnevalsgaudi. Lustig wird der «Freischütz» zum Abschuss freigegeben.

Am schönsten war der Moment kurz vor Beginn der Aufführung. Durch das Geschwätz des Publikums und das Gefiedel der sich einspielenden Musiker hindurch klang in lauterer Harmonie der Gesang der Hörner, letzte Probe für Takt 10 der Ouvertüre, im Gewusel unverstellt der ganze romantische Zauber. Dem will die Inszenierung offensichtlich an den Kragen. Mit Gewalt: Ein pulsierendes Video von «schönen» Farbkreisen auf der bühnenportalgrossen Leinwand zur Ouvertüre bombardiert das Publikum. Der Angriff auf die Augen blendet das Gehör, und so ist der ganze Abend.

Ja, die Brautjungfern und der «Jungfernkranz»! Schon Heinrich Heine hat sich über diesen Ohrwurm lustig gemacht. Ja, die Wolfsschlucht! Schon Franz Grillparzer parodierte das Grausen: In «Der wilde Jäger» marschieren 50 Grenadiere auf und zielen aufs Publikum, um «diejenigen, die sich noch nicht fürchten, in wirkliche Furcht zu versetzen». So arg treibt es Herbert Fritsch in seiner Inszenierung nun gerade nicht, sondern geht, das Opernklischee bedienend, den kulinarischen Weg und übersättigt mit triefend volkstümlicher Ästhetik.

Zaubern und Wegzaubern

Und noch ein anderer Unterschied zu den erwähnten spöttischen Zeitgenossen Webers ist zu erwähnen. Diese haben kurze Satiren geschrieben, das Opernhaus aber führt die Oper auf. Chor, Orchester, Werkstätten und so weiter – alles ist auf Hochtouren, und weder Kosten noch Mühen werden für eine Kostümorgie auf der Hochglanzbühne gescheut. Auch sind Fantasie und Können im abgesteckten Kreis des Wollens hochgradig vorhanden, und man könnte bei all der handwerklichen Präzision der Aufführung sogar von Bühnenzauber sprechen. Was allerdings weggezaubert wird, ist Carl Maria von Webers romantische Oper «Der Freischütz», sofern man darunter nicht nur die Musik, sondern ihr Zusammenspiel mit der Szene und ihre Verkörperung in den Figuren versteht.

Singende Puppen

Was sich im Opernhaus zeigt, ist eine Art Doppelmoral: Man tut sich an der Musik gütlich und benimmt sich auf der Bühne so, als wolle man mit ihr nichts zu tun haben. Wenn die tugendfromme Agathe ein Frauenbild verkörpert, das nur noch als Parodie auszustellen ist, müsste vor allem ihre Musik parodiert werden. So weit aber kann ein Opernhaus nicht gehen, dessen ganzes Kapital die Partituren aus alter Zeit sind.

So wird denn nach allen Regeln der Kunst musiziert und gesungen, klangprächtig tönt es unter der Leitung von Marc Albrecht aus dem Graben, und auf der Bühne singt, zur Ikone aufgemöbelt und sanft wippend, Lise Davidsen, so schön sie eben kann: «Das Auge rein und klar.»

Es ist der Gesang einer Puppe, und Puppen sind sie alle, die in dieser Inszenierung auf der Bühne stehen, grimassierend, trippelnd und zappelnd. Mélissa Petit nutzt dabei wie schon in «King Arthur» für Ännchen ihr hochgradiges Talent für nervensägend schrille Komik. Auch der tenorale Volleinsatz hilft Christopher Ventris nicht, die Existenznot der Titelfigur Max («Lebt kein Gott?») glaubhaft zu machen. Dafür schmunzelt man über seine Frisur.

Christof Fischesser, wider die Ankündigung zum Glück bestens bei Stimme, erreicht auch als Darsteller noch am meisten das Format der Figur, gerade weil er den schlimmen Kaspar eher auf Understatement spielt. Für die übrigen gilt verschärft, dass Name Schall und Rauch, das Kostüm aber alles ist.

Stroh für das Finale

Es gilt vor allem für den Eremiten, der als Strohpuppe vom Bühnenhimmel kommt und am Ende in die Handlung eingreift. Mit bassgrundierter Autorität (Wenwei Zhang) massregelt er die Förster-Gesellschaft und macht sie für das Fehlverhalten von Max verantwortlich. Er verbietet das Ritual des Probeschusses, und ja, er verlangt von Max ein Jahr der Bewährung. Das ist das Stroh, das er drischt und das zum Jubelfinale führt, das Weber nur so geliefert haben soll, weil er sich nicht getraut habe, das schwarze Ende zu schreiben.

Könnte es aber nicht sein, dass es den Autoren mit der Idee der Humanisierung der Gesellschaft unter christlichen Prämissen vielleicht ernst und es sogar die Quintessenz ihrer Arbeit war und dass das Finale nicht, wie Marc Albrecht im Programmheft sagt, «Behauptung», sondern Forderung oder H-Dur-ferne Hoffnung? Vielleicht ist das C-Dur des Schlusses auch nicht «grell», sondern dem erwarteten Glück vorauseilend einfach überschwänglich wie schon in der optisch malträtierten Ouvertüre.

Den letzten Strich durch die Rechnung der Oper zu machen, ist dann dem Teufel vorbehalten. Im Libretto hat der Böse in der Gestalt Samiels, des schwarzen Jägers, nur einen ganz kurzen Auftritt am Ende des Wolfsschluchtspektakels, und diese Hintergründigkeit macht seine Dämonie aus. In der Zürcher Inszenierung ist die Dämonie gestrichen, und ein rotes Teufelchen mit Federhut und Pfeilschwanz markiert Dauerpräsenz, und wie er über die Kirchturmspitze turnt, sich mal als Balletttänzer geriert, sich in seinem Schwanz verheddert und – der Running Gag – in die Wand läuft, ist die grosse schauspielerische Leistung des Schauspielers Florian Anderer, bei allen Gesangskünsten von Solisten und Chor die Hauptattraktion des Abends.

Die Unermüdlichkeit der teuflischen Posen und Faxen mag man aber nicht nur loben. Anderers Dauerlauf ist auch Teil des Overkills, der Fritschs Komik ausmacht. Da ist viel Leerlauf bis zum finalen Meisterstreich, zu dem er ausholt, wenn er unter Agathes Reifrock kriecht und dort – «Wer rein ist von Herz und schuldlos im Leben», singt sie gerade – ordentlich für Dampf sorgt.

In die Schublade damit?

Was für eine prüde Tante diese Oper doch ist, in die Schublade damit! Das ist die Aussage des Abends, deren Substanz einigermassen im Missverhältnis zum ästhetisch perfektionierten Aufwand der Veranstaltung steht. Der Rest ist Belustigung, und wer nicht mehr sucht, ist bedient. Er wäre es aber auch an vielen anderen Orten. Die Aufgabe des Opernhauses aber könnte auch sein, seinen Schatz zu sichten, herauszuhören und auf der Bühne herauszuarbeiten, was auch ein aktuelles Publikum berührt. Dieses steht ja auch heute nicht jenseits von Gut und Böse und sieht sich nicht nur mit einem roten Spassteufelchen konfrontiert.