Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (08.11.2016)
David Hermann deutet Mozarts Türken-Singspiel als Studie über eine scheiternde Beziehung. Das hat erhellende und einige unfreiwillig komische Momente. Auch in der Musik gibt es Licht und Schatten.
Wäre die Lautstärke des Widerspruchs ein Gradmesser für die Lebendigkeit einer Kulturinstitution, man müsste sich derzeit keinerlei Sorgen machen um die Oper Zürich. Schon nach Webers «Freischütz», der Premiere zur Saisoneröffnung, prallten Ablehnung und Zustimmung im Publikum hart aufeinander – wobei man sich angesichts von Herbert Fritschs zahmer Inszenierung denn doch die ketzerische Frage stellte: Wozu der Lärm? Widerspruch regte sich auch jetzt wieder, nur unwesentlich leiser, am Ende von Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail», der zweiten Produktion der neuen Spielzeit. Und diesmal lohnte es durchaus, über Für und Wider dieser Lesart zu streiten.
Eine aktuelle Oper?
Mozarts Singspiel von 1782 wird in unseren vom Terror geplagten Tagen gern (und etwas vorschnell) besondere Aktualität attestiert – stellt die «Entführung» doch das bedeutendste frühe Beispiel einer zeitkritischen Oper dar, in der sich der Zusammenprall zweier Kulturkreise – eines aufklärerisch-westlichen und eines türkisch-islamischen – manifestiert. Zum Glück erkennt das Team um den Regisseur David Hermann und die Bühnenbildnerin Bettina Meyer die Falle der Trivialisierung, die in der vermeintlichen Nähe zu kulturellen und religiösen Konfrontationen der Gegenwart verborgen liegt. Die Regie vermeidet denn auch zu kurz gedachte Gleichsetzungen; einzig in der Figur des Haremswächters Osmin wird eine mögliche Radikalisierung zum islamischen Fundamentalisten angedeutet. In den weniger plakativen Momenten geht es hingegen um die Abbildung von Ängsten, die uns allen den Blick trüben und das Leben vergällen können.
Als Studienobjekt hat sich Hermann die Figur des Belmonte ausgesucht: Er wird von der zunehmend krankhaften Furcht geplagt, seine Freundin Konstanze könnte ihn mit einem anderen Mann betrügen. Schon während der Ouvertüre erleben wir das Paar an einem Tiefpunkt. Während das Orchester die Moll-Variante seiner ersten Arie intoniert, setzt Belmonte immer wieder zu einer Frage an, die dem Text des zentralen Quartetts vom Ende des zweiten Aufzugs entlehnt ist: «Man sagt. . . du seist. . . die Geliebte des Bassa?» Die Antwort ist ein Glas Wasser ins Gesicht und das Krachen der ins Schloss fallenden Tür zur Damentoilette am vorderen rechten Bühnenrand.
Wir befinden uns nämlich mitnichten im wilden Orient, schon gar nicht in einem Serail. Der Schauplatz ist vielmehr ein angesagtes Restaurant, in dem sich das Paar offenbar zu einer Aussprache samt Versöhnungsmahl verabredet hatte. Daraus wird nun nichts, denn die Klotür zur Rechten bleibt erst einmal verschlossen. Da hilft dem Düpierten auch kein mozärtliches Flehen im Stile von «O, wie ängstlich, o wie feurig klopft mein liebevolles Herz». Pavol Breslik, der Sänger des Belmonte, wird stattdessen den Rest des Abends hin und her wandern zwischen dem öffentlichen Raum des Restaurants, in dem sich immer neue Varianten des Beziehungseklats abspielen, und dem per Drehbühne herbeibugsierten privaten Schlafzimmer Konstanzes, worin ihm (und uns) in Spielszenen mit dem realen oder imaginierten Nebenbuhler namens Selim (Sam Louwyck in einer stummen Rolle) die Vorgeschichte und der Niedergang einer Liebe vor Augen geführt werden. Völlig zu Recht legt Breslik vor lauter Kummer einen durch und durch melancholischen Ton in seinen tadellos geführten Tenor.
Was diese psychologisierende Beziehungsstudie mit der bekannten Handlung der «Entführung aus dem Serail» zu tun hat? Alles und nichts. Seit der Salzburger Inszenierung von 2003/04, deren freche Umdeutung zur WeddingPlanner-Soap den jungen Stefan Herheim schlagartig bekanntmachte, mühen sich viele Musiktheater-Regisseure mit dem Stoff der «Entführung» ab. Die besseren unter ihnen arbeiten heraus, dass Mozarts Musik, losgelöst vom seinerzeit für exotisches Gruseln sorgenden Schauplatz im «Morgenland», noch eine andere Geschichte erzählt – eine ungleich subtilere: die von Zuneigung, unbedingter Treue und Verlust, aber auch von Zweifeln, Eifersucht und dem Glück des Wiederfindens. Nirgends wird dies so greifbar wie in dem besagten Quartett (hier allerdings musikdramaturgisch sinnwidrig an den Beginn des zweiten Aufführungsteils verfrachtet), das in dem frenetischen Leitsatz gipfelt: «Es lebe die Liebe!»
Hermanns Inszenierung, die wohlweislich auf die Dialoge verzichtet, hat ihre Stärken in ebendieser Fokussierung auf den Mozartschen Gefühlskontrapunkt, der das zeitverhaftete Singspiel-Geschehen unendlich vertieft. So erlöst er auch die Konstanze von Olga Peretyatko aus ihrer rollengebundenen Zerrissenheit zwischen Resignation («Traurigkeit ward mir zum Lose») und dem Todesfatalismus der «Martern»-Arie, deren Koloraturen der eher im Lyrischen überzeugenden Peretyatko im Übrigen einige Mühe bereiten. Stattdessen befreit sich Konstanze, das weibliche «Objekt» des Entführungsplans, hier kurzerhand selbst aus der Umklammerung durch männliches Besitzdenken.
Hermann spiegelt diese Emanzipation an den beiden Dienergestalten Blonde und Pedrillo, die durch identische Kostüme (Esther Geremus) zu Alter-Ego-Figuren ihrer Herrschaften werden. Die beiden nehmen es sehr viel leichter mit der Liebe, und Claire de Sévigné und Michael Laurenz agieren auch sängerisch resoluter und weniger innerlich als das «hohe Paar». Kein Wunder, dass sie sich am Ende, das der Anfangsszene im Restaurant gleicht, versöhnen, während Konstanze und Belmonte, inzwischen völlig zermürbt, im unüberbrückbar gewordenen Dissens verharren.
Weniger einleuchtend erscheint die Rolle des Osmin, der als dämonischer Oberkellner in dem Serail-Restaurant Dienst tut und die Gäste mit seinem ruppigen Gebaren vergrault. Er verkörpert die Ängste, die Belmonte immer stärker quälen: Angst vor dem Verlust der Partnerin, Angst vor der gesellschaftlichen Blamage, Angst wohl auch vor sexuellen «Anfechtungen» (wie eine homoerotische Szene mit Osmin zum «Vivat Bacchus»-Duett andeutet), Angst schliesslich vor dem Fremden schlechthin.
Dass dieses «Fremde» allerdings in Osmin die Gestalt eines islamischen Fanatikers annimmt, der die Janitscharen-Frauen in schwarze Burkas zwingt und am Ende nahe daran ist, die Gäste im Restaurant niederzumetzeln – dies wirkt denn doch wenig schlüssig und mit dem Holzhammer aktualisiert. Zumal dem feinsinnigen Nahuel Di Pierro die Bass-Schwärze eines Matti Salminen oder Kurt Moll abgeht.
Herbeizitiert
Für die Szene der (scheiternden) Entführung zitiert die Regie schliesslich ein Theater aus der Mozart-Zeit herbei, mit einem krummsäbelschwingenden Osmin im Muselmann-Kostüm. Weniger uneigentlich, aber ebenfalls historisch informiert geht es im Graben zu, wo La Scintilla, das Originalklang-Ensemble des Hauses, spielt. Der junge Maxim Emelyanychev hatte bei Probenbeginn die Leitung von seinem Förderer Teodor Currentzis übernommen – nach dessen genialischem «Macbeth»-Dirigat vom April eine Hypothek, aber auch eine Chance. Emelyanychev nutzt sie nur zum Teil: Die eher gemessenen Tempi variieren und atmen zu wenig, das Holz intoniert oft unsauber. Auf alten Instrumenten ist man da in der Mozart-Interpretation längst schönere Töne gewöhnt.