Der Ventilator im Kopf

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (08.11.2016)

Die Entführung aus dem Serail, 06.11.2016, Zürich

Die Hits sind alle da in Mozarts «Entführung aus dem Serail» am Zürcher Opernhaus. Dank David Hermann spürt man den Protagonisten – das ist das Problem.

«Man sagt...», ruft Belmonte während der Ouvertüre, «man sagt..., du seist die Geliebte des Bassa.» Konstanze schüttet ihm ein Glas Wasser ins Gesicht, verschwindet hinter der Tür mit dem ­geschwungenen D – und das Publikum weiss, dass Mozarts «Entführung aus dem Serail» diesmal ziemlich anders ­gehen wird.

Zwar hält sich der Regisseur David Hermann an die vorgegebene Abfolge der Gesangsnummern. Aber die Dialoge dazwischen hat er gestrichen und mit ­ihnen die Geschichte, die Mozarts Singspiel erzählt. Der Serail ist bei ihm ein schickes Restaurant, eine Entführung hat nie stattgefunden, und Belmonte ist ein Fall für die Psychotherapie: Überall sieht er mögliche Konkurrenten und Anzeichen für Untreue. Kein Wunder, kriselt es in der Beziehung zu Konstanze.

Nun ist die Geschichte dieses Stücks auch in anderen Inszenierungen schon umgedeutet worden. Auch die Skepsis gegenüber den Dialogen ist mittlerweile Standard, im internationalen Opern­betrieb sind gesprochene Passagen nun mal tatsächlich oft ein Problem. Und selbst Hermanns zentrale Idee ist nicht neu: Dass eine Handlung im Kopf eines Protagonisten spielt, ist längst Regietheater-Mainstream.

Ungewohnt ist allerdings, dass man als Zuhörerin mit in diesem Kopf sitzt. Man sieht nicht nur die Albträume des Belmonte, man hört auch das Rauschen seines Blutes, das Pochen des Pulses, das hartnäckige Sirren eines Verdachts. Dafür sorgen Malte Preuss’ Soundcollagen, die zwischen die Arien geschaltet werden – und die das Hauptproblem ­dieser Aufführung sind.

Auffallend viele Patzer

Man hatte das doch schon einmal in ­Zürich, in Mozarts «Don Giovanni». Da hatte Regisseur Sebastian Baumgarten die Rezitative durch ein zeitgenössisches Irgendwas ersetzt – mit dem Resultat, dass der musikalische Zusammenhang verloren ging und jede Arie wieder bei null starten musste. Die Soundcollagen mögen nun weniger aufdringlich sein, passend zur stilvollen Bühne von Bettina Meyer; aber auch sie lassen ­Mozarts Musik ins Leere abstürzen.

Das kann auch der erst 28-jährige ­Dirigent Maxim Emelyanychev nicht verhindern. Er ist kurzfristig eingesprungen, weil Teodor Currentzis aus gesundheitlichen Gründen absagen musste (wobei man sich nach der Premiere fragen kann, inwiefern das Regiekonzept seine Befindlichkeit beeinflusst haben könnte). Emelyanychev – der als Cembalist und Pianist überaus einfallsreich mit Currentzis zusammenarbeitet und als Chefdirigent das renommierte Ensemble Il Pomo d’Oro leitet – tut zwar, was er kann: Er setzt kräftige Akzente, lässt die Melodien abheben, sorgt zusammen mit dem Orchestra La Scintilla für ein durchsichtiges, vitales Klangbild. Aber die auffallend vielen Patzer bei den Bläsern und die Koordinationsschwierigkeiten mit der Bühne verraten, wie schwierig es ist, in diesem Konzept den Faden nicht zu verlieren.

Verzweifelte «Wonne»

Das gilt auch für die Sängerinnen und Sänger. Schauspielerisch stürzen sie sich mit Verve in dieses Abenteuer, Pavol Breslik und Olga Peretyatko vor allem. Wenn sie sich im Restaurant als Belmonte und Konstanze an ihr Tischchen setzen (immer wieder, die Szene ist eine Albtraumschlaufe), spürt man die Spannung zwischen ihnen, den Frust, das Lauern darauf, dass etwas passiert. Auch vokal haben die beiden einiges zu bieten: ein betörendes Timbre sie, gestalterische Leichtigkeit in allen Lagen er. Dass es manchmal ein wenig dauert, bis sie auf Touren kommen, liegt nicht an ihnen.

Auch die Übrigen machen das Beste aus ihren Partien. Pedrillo (Michael ­Laurenz) und Blondchen (Claire de ­Sévigné) sind hier kein echtes Paar, sondern die Alter Ego von Belmonte und Konstanze – aber immerhin höchst energische Alter Ego. Auch den Bassa Selim gibt es wohl nicht, jedenfalls verschwindet er immer gleich, wenn Belmonte auf ihn losgeht; Sam Louwyck tut es mit automatenhaften Bewegungen. Osmin dagegen dürfte ein realer Kellner sein, dem Nahuel Di Pierro einen dem Niveau des Lokals angemessenen gepflegten Bass verleiht; wenn er aber ausrastet, tut er es richtig.

Für einen Moment jedenfalls, dann geht gleich wieder der Ventilator, Pardon: die Soundcollage los. Und man hat Zeit, darüber nachzudenken, was an diesem Abend schiefläuft. Es ist ja nicht so, dass die starken Momente fehlen würden: Konstanzes «Traurigkeit» berührt, auch wenn sie sich für einmal auf die Beziehung mit Belmonte bezieht; und seine «Wonne» gewinnt durch die Verzweiflung, mit der er sie besingt. Die Doppelgängerkonstellation hat ebenfalls ihren Reiz – weil sie innere Zerrissen­heiten ebenso sichtbar macht wie die Entfremdung der Liebenden. Selbst der muslimisch-christliche Konflikt, der ­wegen Osmin nicht ganz aus dem Stück herauszuredigieren ist, wird geschickt in die Beziehungskrise eingepasst.

Aber es ist nicht zu übersehen, dass sich auch Mozart und der Regisseur in einer Beziehungskrise befinden. So sehr Belmonte an Konstanzes Treue zweifelt, so sehr misstraut David Hermann der theatralischen Kraft des Stücks. Und auch wenn er sein Misstrauen sorgfältiger umsetzt als Sebastian Baumgarten im «Don Giovanni»: Das Wummern im Kopf übertönt die Musik auch hier.