Beziehungsanalyse statt Türken-Exotik

Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (08.11.2016)

Die Entführung aus dem Serail, 06.11.2016, Zürich

Frisch gewagt: In Zürich zeigt der Regisseur David Hermann Mozarts «Entführung aus dem Serail» losgelöst von der vorgesehenen Handlung: Provokativ und mit ein paar Brüchen – aber unbedingt sehens- und hörenswert.

Fast zum Schluss gibt es doch noch Turban, Krummsäbel und einen gemalten orientalischen Palast. Überraschend entspringt der Bühne auf der Bühne ein Bilderbuch-Türke, der die vier Europäer nicht nur an der Flucht aus dem Serail hindert, sondern sie gleich mit einem Schwertstreich umbringt.

Von Buhs begleitet – und dennoch überzeugend

Wobei – vier Europäer? In David Hermanns so gewagter wie kluger Inszenierung gibt es eigentlich nur Belmonte und Konstanze mit je ihrem Alter Ego, im Zentrum steht ihre Beziehung. Doch da ist dieser Bassa Selim, stumm dargestellt vom Tänzer Sam Louwyck: der Fremde, der für Konstanze unübersehbar anziehende und für Belmonte bedrohliche Fremde. Statt Singspiel mit exotischem Kolorit ist im Opernhaus plötzlich eine psychologisch hochspannende Beziehungsanalyse zu sehen.

Die erntete bei der Premiere am Samstag zwar auch einige Buhs, ist aber überzeugend aus der Musik entwickelt, die durch das feurige und feinnervige Dirigat des sehr jungen Maxim Emelynychev ihrerseits ganz starke Konturen hat – die zahlreichen Patzer des Orchestra La Scintilla zeigen auch, wie viel musikalisch an rasanten Tempi, an scharfen Akzenten und leisem Spiel gewagt wird.

Alles beginnt in einem Restaurant, modern und kühl. Wenn es dreht, zeigt Bettina Meyers Raum einen unwirklich strahlenden Zwischenraum. Belmonte kommt zu spät und noch in die Ouverture hinein fragt er Konstanze nach dem Bassa. Auf diesem Untreueverdacht baut die ganze Inszenierung auf und beginnt so, auch textlich, eigentlich am Ende des zweiten Aktes – dort und am Schluss beginnt das Stück eigentlich wie ein zweites und drittes Mal. Regisseur Hermann greift so und durch die Streichung aller Dialoge durchaus ins Stück ein, lässt einmal auch den Chor an nicht vorgesehener Stelle mitsingen und macht die Arie «Frisch zum Kampfe!» zum Tenorduett.

Hermann hört genau, was Mozarts Musik aussagt

David Hermann hört eben sehr genau darauf, was Mozarts Musik emotional über die Figuren aussagt. Aber es erschreckt die Seh- und Hörgewohnheiten und schärft dadurch die Sinne für neue Schichten. Das ist im Opernbetrieb immer noch eine Herausforderung.

Das auch sprachlich hervorragend vorbereitete Ensemble lässt sich voll auf das musikalische und szenische Spiel ein. Neben dem souveränen, leicht geführten Tenor von Pavol Breslik wertet Michael Laurenz den Pedrillo (der hier eben auch Belmonte ist) zu einer vollplastischen, stimmlich differenzierten Figur auf.

Claire de Sévigne aus dem Opernstudio gestaltet ein unerwartet nachdenkliches Blondchen. Schön der Kontrast zur dunkler timbrierten Konstanze von Olga Peretyatko. Die vokale Artistik der schwierigen Rolle erfüllt sie bravourös. Was ihr Rollendébut aber zum Ereignis macht, ist wie sie dabei die Figur gestaltet und singend auch noch spielt. So fesselt das Musikalische hier genauso wie das Szenische – so soll Oper sein.