Reinmar Wagner, Südostschweiz (08.11.2016)
In Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» treffen Islam und Christentum aufeinander, eine überaus aktuelle Thematik in heutigen Tagen. Die Inszenierung von David Hermann, die am Sonntag am Opernhaus Zürich Premiere hatte, geht aber einen ganz anderen Weg.
Wer die neue Zürcher «Entführung aus dem Serail» besucht, kann den Opernführer im Gestell lassen. David Hermann erzählt in seiner Inszenierung von Mozarts Singspiel nichts von dem, was man dort in der Zusammenfassung lesen kann, nichts von Harem und Orient, von gefangenen Europäerinnen und heldenhaften Kreuzrittern, wir sehen keine Serail-Fantasien und Türkei-Touristenbil- der, keine verwegenen Fluchtpläne und nächtliche Ständchen vor dem Paschapalast, und der säbelschwingende Haremswächter Osmin hat nur einmal als kurzes Zitat seinen üb- lichen Auftritt in der Türkentracht mit Turban und Krummdolch. Sonst ist er Kellner in einem eher gehobenen Zürcher Restaurant. Und nein: Kein Terrorist, kein schlafender IS-Kämpfer, kein Dschihad-Träumer. So einfach macht es uns David Hermann in seiner Sicht auf Mozarts eher harmloses und klischeebeladenes Singspiel nicht.
Ausgangspunkt für seine Inszenierung ist jener Moment in Mozarts Stück, in dem sich die beiden Paare im Palast des Sultans treffen und über den Fluchtplänen plötzlich die bange Frage steht: Wie hast du’s mit der Treue? Es sind die Männer, die fragen, aber Hermann deutet auch an, dass diese Frage möglicherweise auch umgekehrt ihre Berechtigung hätte. Hauptsächlich aber inszeniert er Mozarts «Entführung» als Spiegelbild der Ängste und Selbstzweifel Belmontes, als Blick in die verwirrte Seele eines zweifelnd Liebenden und liebend Zweifelnden, der zwischen Realität und Einbildung, zwischen Gewissheit, Ahnung und Vermutung nicht mehr unterscheiden kann.
Verschmelzung von Fantasie und Sein
Alles andere verschwindet aus dem Stück: Die Paare verschmelzen, Pedrillo ist Belmontes Alter Ego, Konstanze und Blonde sind dieselbe Person, der Bassa – bei Mozart eine Sprechrolle, hier stumm von einem Tänzer gespielt – ist die gespenstische Projektion des vermuteten Nebenbuhlers. Und eben, Osmin ist der Kellner im Restaurant, in dem sich Belmonte mit seiner Frau trifft und ihr eine Eifersuchtsszene macht. Womit auch klar ist: Das säbelschwingende Türkenzitat entspringt ebenfalls bloss Belmontes Fantasie. Weniger sicher ist das bei der Liebesszene mit dem Kellner – sinnigerweise zur Textzeile: «Wir lieben die Mädchen» – bei Hermann Ausdruck verdrängter Bisexualität. Oder nur der Angst davor? Weniger sicher ist auch das Ende: Ist Osmin jetzt vielleicht doch ein Terrorist? Oder haben wir bloss Angst vor dem Fremden, der sich mal traut, etwas laut zu sagen?
Handwerklich überzeugende Figuren
Nicht nur hier geht Hermann vom Text aus – und hat doch die Sprechtexte praktisch komplett gestrichen. Er inszeniert die Nummern als archetypische Paar-Beziehungs-Stationen, sehr detailliert, mit Fantasie und Können, handwerklich überzeugend gezeichneten Figuren, die freilich in dieser Anlage nicht mehr als Schablonen bleiben können – was irgendwann die ketzerische Frage aufkommen lässt: Warum spielen wir eigentlich Musik von Mozart zu diesem Hermann-Theater?
Gespielt wurde sie natürlich, vollständig bis in jedes Da Capo, mit wenigen marginalen Eingriffen in die Partitur. Die Gleichsetzung der Figuren lässt zu, dass die Einen Mal eine Phrase von Anderen klauen, wiederholen oder bekräftigen. So wird etwa die Belmonte-Arie «Auf zum Kampfe» gar nicht unpassend zum Tenor-Duett. Und die Tempo-Dramaturgie des Dirigenten passte sich ein paarmal dem Regiekonzept an oder half, die Brüche zu kitten, die das Fehlen der Sprechtexte aufriss. Eigentlich war der griechische Mozart-Kult-Maestro Teodor Currentzis für diese Produktion vorgesehen. Er musste krankheitshalber vor einem Monat das Engagement niederlegen, dennoch klang es in Zürich, als hätte er auf dem Dirigentenpodium gestanden: Sein Cembalist Maxim Emelyanychev, unterdessen Chef des Barockensembles «Il Pomo d’Oro», erhielt vom Opernhaus das Vertrauen – und rechtfertigte es auf grandiose Weise.
Musikalisch sehr detailliert
An der Spitze der Originalklang-Formation des Zürcher Opernorchesters «La Scintilla» präsentierte er ein sehr schlankes, durchsichtiges Klangbild, das stark vom Diskant geprägt war, zudem sehr kleinteilig musiziert und in den feinen Strukturen der Motive trotz hoher Tempi sehr detailliert gestaltet wurde.
Dazu passte das junge Ensemble, angeführt von Olga Peretyatko als Konstanze, die stimmlich wie stilistisch ihrem hohen Renommée nicht ganz gerecht wurde, und von einem eher monochrom singenden Pavol Breslik als Belmonte. Das Orchester begleitete sehr trans- parent und sängerfreundlich, so konnten sich auch Michael Laurenz als Pedrillo und Claire de Sévigné als Blonde mit ihren leichten Stimmen mühelos behaupten, und auch Nahuel Di PIerro gab einen bemerkenswert jugendlich-geschmeidigen Osmin ab, eine interessante Variante für eine Rolle, die üblicherweise mit heftig polternden Bässen besetzt wird.