Oliver Schneider, DrehPunktKultur (10.11.2016)
David Hermann reduziert Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ auf eine Reise in die seelischen Abgründe Belmontes. Am Pult steht der 28-jährige russische Dirigent Maxim Emelyanychev.
Angekündigt war Teodor Currentzis für die Neuproduktion von Mozarts „Entführung“, was nicht nur im Hinblick auf den nächsten Festspielsommer spannend gewesen wäre. Er zog sich aber gut eineinhalb Monate vor der Premiere wegen anderer Projekten zurück, und Maxim Emelyanychev übernahm die Aufgabe. Emelyanychev hat bereits als Cembalist mit Currentzis in Zürich zusammengearbeitet und leitet zurzeit das Barockorchester Il Pomo d’Oro. Eigentlich gute Voraussetzungen trotz des späten Einstiegs in die Produktion.
Trotzdem lässt die musikalische Seite des Abends viele Wünsche offen. Vor allem im ersten Teil – die Pause ist nach Blondchens „Welche Wonne, welche Lust“ gesetzt – gab es am Sonntag (6.11.) etliche verwackelte Einsätze, und das Zürcher Barockorchester La Scintilla schien auch nicht seinen besten Tag erwischt zu haben. Vor allem mit seiner Tempodramaturgie bringt der junge russische Dirigent die Protagonisten, aber auch die Musiker so manches Mal in Bedrängnis, vor allem, wenn er immer wieder abrupt drosselt. Sehr schön herausgearbeitet sind hingegen die Bläserstimmen. Emelyanychev und La Scintilla werden hoffentlich die nächsten Vorstellungen zum Justieren nutzen.
Der deutsche Regisseur David Hermann deutet die Entführung psychologisch: Konstanze wartet in einem kühl-eleganten Restaurant auf Belmonte, der ihr vorhält, sie sei die Geliebte des Bassas. Nur: Dieser Bassa ist lediglich eine Fiktion Belmontes. Genau wie das Landhaus, für das sich im Hintergrund immer wieder eine kleine, erhöhte Bühne auf der Bühne öffnet. Anders als zum Beispiel in Stefan Herheims umstrittener Salzburger Entführung ist der Bassa (Sam Louwyck) allerdings nicht ganz gestrichen und greift immer wieder als verkörperlichte idée fixe ins nicht-linear erzählte Geschehen ein.
Hermann konzentriert sich ausschließlich auf Belmonte und seine Beziehung zu Konstanze. Pedrillio und Blondchen sind ihre Doppelgänger, so dass sich der innere Kampf zwischen Liebe und Vertrauen einerseits und Eifersucht auf der anderen Seite potenziert. Die Idee ist nicht nur deshalb interessant, weil sich Belmonte und Pedrillio in einer ähnlichen Situation befinden, sondern vor allem, weil Hermann die Dialoge gestrichen hat. Die Entführung verliert damit ihren harmlosen Singspielcharakter, die Singspiel-Figuren ihre Berechtigung.
Bettina Meyer hat die Bühne für den durchdachten Abend kreiert. Auf einer Drehbühne bewegen sich die Protagonisten im weiß-goldenen Restaurant, im ebenso schicken, violett ausgekleideten Schlafzimmer oder in einem nach hinten offenen tunnelartigen Gang. Der kulturelle Hintergrund, der Gegensatz zwischen Christen und Moslems, wird nur dezent beleuchtet, indem der scheinbar so friedliche Oberkellner Osmin als im Kern gefährlicher Radikaler gezeigt wird. Und der Chor (Einstudierung: Jürg Hämmerli) im ersten Akt – eigentlich bei der Ankunft des Bassa mit Konstanze – trägt Burkas.
So kann man Mozarts Entführung inszenieren. Nur: Macht sich der Regisseur es nicht zu einfach, wenn er die Fragezeichen, die das Libretto heute hinterlässt, einfach ausblendet? Wenn er die Dialoge – wie Claus Guth in seinem Fidelio 2015 in Salzburg – durch Sound-Collagen (Malte Preuss) ersetzt, das niedere Paar und natürlich die Huld des Bassas streicht? Am Ende siegt Belmontes zweifelnder, innerer Bassa, indem dieser die vier Figuren an den Tischen des Restaurants platziert und die Geschichte von vorne losgeht. Und warum schließlich muss Osmin seine Rachearie im Türkenkleid des 18. Jahrhunderts zwischen barocken Theaterprospekten singen?
Hervorragend sind die Protagonisten. Man kann sich zurzeit keinen idealeren Belmonte als Pavol Breslik vorstellen, Olga Peretyatko verleiht der Leidens- und Liebesfähigkeit der Konstanze beredten Ausdruck. Claire de Sévigné bezaubert als Blonde mit leichten Koloraturen und dem weichen Glanz ihrer Stimme, Michael Laurenz interpretiert den Pedrillo mit beweglich schlanker Stimmführung. Nahuel Di Pierro schöpft zwar darstellerisch aus dem Vollen, ist aber mit seiner nicht allzu großen, wohltönenden Stimme (noch) ein bisschen zu wenig bedrohlich für einen Osmin.