Anna Kardos, Luzerner Zeitung (10.11.2016)
Regisseur David Hermann schnippelt sich im Opernhaus Zürich Mozart zurecht. Das ist manchmal mutig, manchmal erstaunlich und manchmal unlogisch.
Was ist schon Menschenhandel? Was Gefangenschaft im Nahen Osten gegen die Abgründe einer Paarbeziehung? Peanuts, scheint David Hermanns Inszenierung der «Entführung aus dem Serail» zu behaupten. Der deutsche Regisseur hat Mozarts Singspiel aus der Klamottenkiste des Orientalismus geholt: Weg mit den Zwiebelkuppeln und bunten Turbanen und her mit einem cleanen und kühl ausgeleuchteten Ambiente. Es braucht die Kühle, und auch das Licht. Denn was auf der Bühne der Zürcher Oper demonstriert wird, ist eine Anatomie der menschlichen Psyche.
Soeben stolpert das Objekt der Anatomie – ein Mann mit nervösen Eigenschaften – ins Nobelrestaurant. Er ist spät dran. Der Kampf, den er seit Stunden, Tagen mit sich selbst und den Windmühlen seiner Eifersucht gefochten hat, steht ihm ins Gesicht geschrieben. So torkelt er an den Tisch, nimmt Platz und setzt viermal an, bis er stammeln kann: «Man sagt, du seiest die Geliebte des Bassa.» Nun wird auch ihr Mienenspiel zum Minenfeld: Und platsch, fliegt ihm ein Glas Wasser an den Kopf. Die Frau steht auf, stakst zur Toilette und schliesst sich ein.
Alle Dialoge gestrichen
So sieht die Schlüssel-Szene aus, die sich im Verlauf dieses Abends wiederholen wird. Wieder und wieder. Sind es die Windmühlen in Belmontes Kopf, die in der immergleichen Struktur ihren Niederschlag finden? Oder die Neugier eines Regisseurs, der Mozarts Singspiel gegen den Strich bürsten will?
Denn tatsächlich ist der Zusammenzug der Handlung auf eine Repetition mitnichten die einzige Reduktion dieser Inszenierung: Regisseur David Hermann hat auch sämtliche Dialoge gestrichen und die Farbe der Kleidung reduziert: Schwarz für die Männer, Lila für die Frauen (Kostüme: Esther Geremus) – reduziert wurden sogar die vier Protagonisten auf nur ein Paar samt Alter Ego. Und irgendwann fühlt man sich an jene Gleichungen erinnert, die es einst in den Mathestunden so lange zu kürzen galt, bis Überflüssiges eliminiert war und sich der Kern in eleganter Reduktion präsentierte.
Der Vorgang ist mutig und aufregend. Durch die Leerstellen entsteht nämlich Raum für ungewohnte Blickwinkel, 240 Jahre alte Beziehungsstränge knüpfen sich neu, Gefühle erreichen plötzlich einen anderen Adressaten. Andererseits hinterlässt die Operation an der offenen Partitur unschöne Narben: Ohne verbindende Dialoge wirken gewisse Arien unlogisch, der Herrscher Bassa (Sam Louwyck) muss – seiner Sprache beraubt – zur Projektionsfigur verblassen, und selbst die stechende Islamkritik des Librettos ist ausgehebelt.
Glaubwürdig bis in die Bartspitzen
Nahuel Di Pierro als Osmin lässt sich von all diesen Vagheiten nicht irremachen. Mit umwerfender Bühnenpräsenz und ebenso umwerfendem Bass verleiht er seiner Figur Glaubwürdigkeit bis in die Bartspitzen. Und musikalisch gibt die Operation ohnehin einiges her: So kriegt die traditionell todernste Tenorpartie des Belmonte in Form von Belmonte Nr. 2 ein heiteres Spiegelbild – was umso grossartiger funktioniert, da die beiden Männer ihre Partien zusätzlich pointieren: Pavol Bresliks Tenor ist samten, beinahe introvertiert und so beweglich, dass er beim kleinsten Impuls ausschlägt, während Michael Laurenz seinem Belmonte hinreissend mitreissende Töne abgewinnt.
Bei den zwei Konstanzes funktioniert das nur bedingt – vielleicht, weil Olga Peretyatko allein schon ein ganzes Panorama an Frauenpsyche offenbart, wenn sie ihrem schlanken Sopran sämtliche Facetten des Frauseins abgewinnt, während Claire de Sévignés Blonde mit Textverständlichkeit und Genauigkeit aufhorchen lässt. Auch das Orchestra La Scintilla (Leitung: Maxim Emelyanychev) lässt es aus dem Orchestergraben schnurren und scharren, dass es eine Freude ist.