Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (19.09.2016)
Das Theater Basel eröffnet die Opernsaison mit Erich Wolfgang Korngolds Geniestreich «Die tote Stadt»
Welche Macht sollen die Toten über uns Lebende haben? Die Frage scheint nicht unbedingt vorrangig für einen Komponisten Anfang zwanzig. Doch Erich Wolfgang Korngold schrieb in dem Alter über dieses Thema eine Oper, die 1920 zum glanzvollsten Bühnenerfolg der jungen Weimarer Republik avancierte. Nach Korngolds doppelter Verfemung, erst im «Dritten Reich», dann unter der ästhetischen Doktrin der Nachkriegsavantgarde, die seine Filmmusik für Hollywood geisselte, ist «Die tote Stadt» nach 2000 triumphal in die Spielpläne zurückgekehrt. Jetzt ist auch das Theater Basel auf diesen Zug aufgesprungen, und bei der nahezu einhellig akklamierten Premiere zur Saisoneröffnung schien das Erfolgsrezept des Stückes aufs Neue aufzugehen – allerdings auf etwas andere Art als üblich.
Simon Stone, gerade für seine Basler Inszenierung von Ibsens «John Gabriel Borkman» von Wien bis Berlin gefeiert, verzichtet bei seiner ersten Opernregie völlig auf das morbide Kolorit, das Korngolds Oper durch ihre Vorlage, Georges Rodenbachs Roman «Bruges-la-Morte», eingeschrieben ist. Brügge, die «Tote Stadt», erscheint bei Stone nur in Form eines Bungalows mit der Hausnummer 37 (Bühne: Ralph Myers).
Wie starb Marie?
Paul, ein Witwer, wohnt hier schon länger nicht mehr – offenbar sind für ihn mit diesem Haus zu viele Erinnerungen an glücklichere Tage an der Seite seiner Frau verbunden. In einem speziellen Raum hat er sogar Hunderte von Fotos und eine Haar-Reliquie der toten Marie verschlossen. Dieser zum Fetisch stilisierte blonde Haarzopf ist bei Stone die letzte Perücke einer Krebskranken.
Stone beantwortet damit scheinbar beiläufig eine entscheidende Frage: wie und warum die über alles geliebte Marie eigentlich gestorben ist. Neuere Inszenierungen deuten hier mit Bezug auf Hitchcocks Film-Variante «Vertigo» oft einen vertuschten Mord an, der sich dann im Verlauf der Oper bei Maries täuschend ähnlicher Wiedergängerin Marietta auf offener Bühne wiederholt.
Stone bleibt dagegen überraschend nah am Handlungsgerüst des Librettos. Bei ihm ist die atemberaubend promiske Tänzerin Marietta nur äusserlich als Wiedergängerin, charakterlich aber als krasses Gegenbild zu Marie gezeichnet, die laut Paul nichts Geringeres war als «eine Heilige». Stone lässt folgerichtig die Traum-Klammer des Textbuches intakt, eine «Vorausblende» in der Sprache des Films, die Pauls allmähliche Ernüchterung über die «zuchtlose» Marietta und die daraus folgende Eskalation bis zum Mord als warnenden Albtraum zeigt. Gründlich kuriert durch diese Vision, sitzt Paul am Ende in seiner Bungalowküche, öffnet ein belgisches Bier und verbrennt die Reliquien Maries. Ob er seine Obsession von der Wiederkehr der Toten allerdings dauerhaft überwinden kann, bleibt offen.
Mahlerhafte Gleichzeitigkeiten
Der Rest dieses szenisch ungemein stimmigen Premierenabends ist solides Handwerk – im allerbesten, nämlich kreativ weiterdenkenden Sinne. Pauls zunehmende Verwirrung wird durch einen Zerfall des Bungalows versinnbildlicht, dessen einzelne Zimmer immer sinnloser neben- und übereinander placiert werden und erst am Ende – bühnentechnisch noch etwas holprig – in die ursprüngliche Ordnung zurückfinden.
Bis zu diesem Schluss liefern sich Rolf Romei als Paul und Helena Juntunen in der Doppelrolle von Marie und Marietta einen Showdown erster Güte: mit einer Genauigkeit in Mimik, Blick- und Gestenführung, die man so eher im Schauspiel erwartet. Die Kehrseite – und eine grundsätzliche Gefahr des neuen Basler Opernstils – ist eine ziemliche Unbekümmertheit im Umgang mit dem Notentext. Für beide Sänger sind ihre Rollen Grenzpartien; während Juntunen dies geschickt kaschiert, muss Romei zu oft Töne in exponierter Lage verkürzen oder transponieren.
Um den Sängern zu helfen, trimmt Erik Nielsen das Basler Sinfonieorchester bei seinem Einstand als Musikdirektor ganz auf Transparenz. Das Spätromantisch-Süffige der Partitur tritt zurück, stattdessen nimmt Nielsen die zukunftsweisenden Momente ins Visier – etwa die suggestiven Instrumentaleffekte, die in Korngolds Filmmusik nach 1934 wiederkehren; oder die ebenfalls filmisch wirkenden Schnitte und Stil-Wechsel, die dazu führen, dass Ahnungen von Atonalität und Neuer Sachlichkeit (in den virtuos gestalteten Szenen von Mariettas Komödiantentruppe) in mahlerhafter Gleichzeitigkeit neben dem schönen Schein der Wunschkonzert-Hits «Glück, das mir verblieb» und «Mein Sehnen, mein Wähnen» stehen (Letzterer von Sebastian Wartig als Pierrot sehr innig gesungen). Freilich führt der stark aufgebrochene und reduzierte Orchesterklang im Verbund mit den teilweise sehr langsamen Tempi dazu, dass der musikdramatische Erzählfluss ebenfalls brüchig wird. Musikalisch muss diese eindringliche Produktion noch etwas reifen.