Mit ihrem Schatten Arm in Arm

Jenny Berg, Mittelland-Zeitung (19.09.2016)

Die tote Stadt, 17.09.2016, Basel

Fulminanter Saisonstart: Simon Stone inszeniert Erich Wolfgang Korngolds Oper «Die tote Stadt»

Die Musik von Erich Wolfgang Korngold katapultiert uns direkt hinein ins Geschehen. Wie ein Scheinwerfer, der sich hebt, lenkt sie die Aufmerksamkeit innerhalb weniger Takte auf die Bühne. Dort sehen wir eine nüchterne, weisse Etagenwohnung, eingerichtet mit geschmackvollen Designklassikern der 50er-Jahre. Hier lebt Paul, der Trauernde, Arm in Arm mit dem Schatten seiner verstorbenen Frau Marie.

Hinter einer Kommode versteckt sich ein dunkles, verborgenes Kämmerlein, vollständig ausgekleidet mit Polaroid-Fotos der Toten. Und hier steht auch der Trauer-Altar mit den Reliquien der Heiligen: mit ihren Kleidern, ihrem Schmuck, ihren Haaren.

Paul ist überzeugt: Marie lebt. Denn er hat sie gesehen, auf der Strasse, und nun kommt sie zu ihm, in seine halb tote Wohnung im modernden Brügge. Marietta heisst sie, gleicht Marie bis aufs Haar und ist das Leben pur. Eine Tänzerin ist sie, die Halt macht in Brügge mit ihrer Theatergruppe. Die feiert und liebt, wo und wie es ihr gerade gefällt. Warum nicht auch den trauernden Paul, scheint sie sich zu denken.

Rauschhafte Liebesnächte

Und Paul kommt ins Schleudern und ins Straucheln, erlebt rauschhafte Liebesnächte und rasende Eifersucht, eine Horrorvision jagt die nächste: Die Leiche Marie wird lebendig, wandelt glatzköpfig umher, verdoppelt und vervielfacht sich, wie auch die Kinder, die die beiden plötzlich haben. Die Kirchenglocken läuten, Paul betet und bäumt sich auf, auch Marietta, die nicht der Toten statt geliebt werden will, sondern um ihrer selbst willen. Sie nimmt den Kampf mit dem Phantom auf, den Kampf zwischen Leben und Tod. Sie verliert ihn: Paul erwürgt die geliebte Doppelgängerin seiner toten Frau – mit den Haaren der Verstorbenen.

Dass auch dieses Erleben nur ein Albtraum ist, merken die Zuschauer erst, als sich das Bühnenbild nach all den Exzessen wieder zurück auf null stellt, und Marietta erscheint – sie hatte ihren Regenschirm vergessen. Paul erkennt sein Schicksal: Er muss sich endgültig von der Toten verabschieden, wenn er wieder zu den Lebenden gehören will. Und verbrennt die Reliquien.

Dieses vermeintliche Happy End – die Romanvorlage von Georges Rodenbach («Bruges-la-morte») endet mit dem Tod Mariettas – verdanken wir Korngolds Vater Julius. Unter Synonym schrieb er das Libretto für die Oper seines damals 19-jährigen Sohnes. Ursprünglich hiess der Titel «Triumph des Lebens», um die reinigende Kraft der psychischen Katharsis zu betonen.

Musik eines Wunderkinds

Der Komponist Erich Wolfgang Korngold war ein Wunderkind, beneidet von seinem Zeitgenossen Arnold Schönberg, dessen atonale Werke Korngolds Vater als führender Musikkritiker regelmässig verriss.

Korngolds Musik hingegen ist süffig und satt, vielgestaltig und flink, ähnlich wie jene Richard Strauss’ – aber ohne deren düstere Seite. Korngold, der später als Filmmusikkomponist in Hollywood Karriere machte, zeigt schon hier, wie man Geschichten mit Musik bebildert, die Handlung mit Musik vorantreibt, Sänger bettet, Sängerinnen hebt, umhüllt und glänzen lässt. Eindrücklich, wie plötzlich die Zeit stehen zu bleiben scheint, wenn etwa Marietta zum berühmten Opernhit «Glück, das mir verblieb» ansetzt, jenem Lied, das auch Marie einst für ihren Paul sang.

«Bring some kleenex!» riet Operndirektorin Laura Berman ihren Facebook-Freunden vor der Premiere, und sie hatte recht: Das Taschentuch darf nicht fehlen bei dieser Liebesgeschichte, die unter die Haut geht. Dass dem so ist, liegt an einer grossartigen Teamleistung, die an der Premiere überschwänglich bejubelt wurde.

Da ist das Opernregiedebüt von Simon Stone, der so schauerlich schön die Ebenen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen lässt, dass es einem schwindelt. Der seine Figuren so stark charakterisiert, dass sie fast überzeichnet wirken – aber eben nur fast. Der das Bühnenbild (Ralph Myers), die verschachtelten Wohnungsteile auf der Drehbühne, so kunstvoll stapelt, vertauscht, neu zusammenpuzzelt, als gäbe es keine Gesetze der Statik.

Da ist die grossartige schauspielerische Leistung des Titelpaares: Helena Juntunen als Marietta und Rolf Romei als Paul. Romei gibt sich mit ganzem Körpereinsatz dem Erschrecken und Schaudern, dem Verzücken und Lieben hin. Seine Mimik, seine Gestik und seine Körperhaltung sprechen Bände, und lassen vergessen, dass seine Stimme für diese Riesenrolle fast ein bisschen zu leicht, zu lyrisch, und manchmal auch überfordert ist. Doch er hat auch gesanglich grosse Momente, vor allem, wenn er im Duett mit Marietta ganz in die Liebe eintauchen kann. Und Helena Juntunen ist ein elektrisierendes Partygirl, dass niemals stillsitzt, das plaudert, trällert, verführt und singt, als wäre sie gerade zwanzig und voll sprühender Lebenslust.

Auch das Sinfonieorchester Basel meistert diese schwierige, vielgestaltige Partitur mit Bravour und Glanz; und der neue Musikdirektor Erik Nielsen hat mit seinem umsichtigen, stets klug gewichtenden Dirigat einen fulminanten Einstieg gegeben. Und auch wenn diese Oper mit bisher etwa weltweit 550 Aufführungen kein Geheimtipp mehr ist, so ist diese Geschichte doch anders als die Evergreens – und hier so spannend erzählt, dass einem der Atem stocken kann.