Mozarts Uhrwerk mit Herzschlag

Herbert Büttiker, Der Landbote (19.09.2016)

Le Nozze di Figaro, 17.09.2016, St. Gallen

Dass Mozarts Opern völlig unverbraucht wirken, auch wenn die Sicht auf sie die alte ist, zeigt das Theater St. Gallen sehr schön mit einem präzisen und animierten «Figaro». Es sind Momente des Mozart-Glücks.

Mit «Don Camillo e Peppone» hat sich das Theater St. Gallen musikalisch schon warm gelaufen. Als weiteres Musical hat die Bühne, die für dieses Genre ja ein besonderes Faible hat, in dieser Saison neu den «Tanz der Vampire» auf dem Programm, und wieder aufgenommen wird die «West Side Story». Aber auch die Oper rückt vielfältig ins Bild.

Erstmals überhaupt hievt das Haus in dieser Saison Wagners «Lohengrin» auf seine Bühne, und neben «Nabucco» und «Tosca» steht mit «Annas Maske» von David Philip Hefti auch die Uraufführung eines Schweizer Komponisten auf dem Spielplan – es lohnt sich also, St. Gallen im Auge zu behalten, und das sagt nun mit Ausrufezeichen auch die erste neue Mozart-Produktion, «Le nozze di Figaro».

Die Regie des Dirigenten

Wie Mozart in seiner grössten Komödie musikalisch den Strudel der Intrigen steuert, wie er die tiefen Emotionen und die szenischen Pointen musikalisch registriert, wie er dem Fluss der Musik jede kleinste Regung seiner Figuren einschreibt, das ist immer wieder ein Wunder und eine Herausforderung für jede Realisierung des Werks.

Letztverantwortlich in der Hand hat diese Wunder der Dirigent, und mit Karsten Januschke steht für diesen «Figaro» einer am Pult, der ein hervorragendes Gespür für Mozarts musikalische Regie hat, das heisst für Tempodramaturgie, sprechende Phrasierung und die subkutane Wirkung der Instrumentation, Rhythmik und Harmonie. Auch noch die kleine Cavatina di Barbarina war, so plastisch und sensibel ausformuliert, ein Ereignis.

Januschke hat aber auch ein Orchester, das ihm so klangschön wie differenziert folgt, und er hat ein grossartiges, sängerisch wie schauspielerisch starkes Ensemble von den kleinsten zu den grössten Rollen, zum Beispiel eben mit Sheida Damghani als Barbarina.

Das innere Getriebe

Wie in einem Uhrwerk gibt es in dieser Komödie, die im Takt des Herzschlags den Gang der menschlichen Triebkräfte misst, kein unwichtiges Rädchen. Elf Protagonisten drehen sich im Gehäuse, das Judith Leikauf und Karl Fehringer gebaut haben, ein lockeres Gefüge, so praktikabel wie abstrakt, so konstruiert wie atmosphärisch und mit einem wohl nicht zufällig phallisch angehauchten Treppenpavillon in der Mitte.

Als präzise Mechanikerin, die auch das innere Getriebe versteht, steuert die Regisseurin Nicole Claudia Weber, was da alles sich seelisch dreht und ineinandergreift, sie zeigt die tiefen Sehnsüchte und Verletzungen und sie breitet lustvoll und witzig das vordergründige Intrigengeflecht aus – bis hin zum Sprung vom Balkon, bei dem man für einmal sieht, wie Antonios Blumentopf in Brüche geht. Die Kostüme (Alfred Mayerhofer) rücken die Szenerie in spätfeudale Zeiten. Die Hofschranzen und die aufgeplusterte Marcellina in ihrer Mitte (David Maze, Riccaro Botta, Nik Kevin Koch, Kismara Pessatti) sind bourgeoise Karikaturen, und auch der Kammerherr Figaro, schon mal im Frack, hat bürgerliche Statur.

Herrenmoral und Frauenlist

Herr gegen Herr und Herrenmoral für beide gilt es zwischen Figaro und dem Grafen, und es gilt mit Gianluca Margheris geschmeidigem Bassbariton und dem virilen Bariton von Nikolay Borchev auch hinsichtlich der blendenden sängerischen Potenz. Gemeinsam ist ihnen aber auch das defizitäre Verhältnis zum anderen Geschlecht: der Glaube an die eigene Überlegenheit, das Elend der Eifersucht und die ausufernde Begierde.

Die Überlegenheit der Frauen ist dagegen Tatsache, zwiespältig zwar in ihren erotisch kalkulierten Manövern und den ironischlibidinösen Eskapaden, mit denen sie den von Liebesnöten geplagten Cherubino (berührend: Theresa Holzhauser) piesacken, dies aber zielführend.

Susanna erreicht das Ziel sopranistisch leichtfüssig und anmutsvoll mit der glänzenden Christina Landshamer, die Gräfin Almaviva mit dem ausdrucksvollen Legato und dem stimmlichen Aplomb von Ilia Papandreou, und beide erreichen es über wundersame gemeinsame Etappen wie das Briefduett, einer der vielen Momente des Mozart-Glücks aus purer musikalischer Schönheit und szenischer Wahrheit.