Das Weibliche im Menschen

Rolf App, St. Galler Tagblatt (24.10.2016)

Lohengrin, 22.10.2016, St. Gallen

Vincent Boussard schafft es, am Theater St. Gallen Richard Wagners Frauenbild mit seiner geschickten «Lohengrin»-Regie zu konterkarieren. Das Publikum ist beeindruckt, ja begeistert.

Sichtbar geschwächt von seinen Herzanfällen zieht der 69jährige Richard Wagner sich 1883 nach Venedig zurück und arbeitet hier, liebevoll umsorgt von seiner zweiten Frau Cosima, in seinen letzten Tagen an einem Essay «Über das Weibliche im Menschen». Er will noch mindestens zehn Jahre leben, damit Siegfried, der Sohn, seine Nachfolge bei den Bayreuther Festspielen antreten kann. Cosima macht das dann – mit Erfolg.

Dieser Wagner-Sog:
Hier stellt er sich ein

Das Weibliche im Menschen: Es steht wie ein Leitmotiv über jenem «Lohengrin», den Vincent Boussard für das Theater St. Gallen inszeniert hat, und der die Wagner-Pflege in der Ostschweiz wieder so richtig in Gang bringt. Sehr zur Freude des Publikums, wie sich am heftigen Schlussapplaus an der Premiere vom Samstagabend ablesen lässt. Das von Otto Tausk dirigierte Orchester zeigt sich glänzend in Form. Es bringt alle Schattierungen der Partitur zum Strahlen, das Zarte, Poetische ebenso wie das schmetternd Beeindruckende. Dieser Wagner-Sog, der süchtig machen kann: Hier stellt er sich ein. Wozu die drei von Michael Vogel einstudierten, stimmkräftigen Chöre – der Chor des Theaters und der Opernchor St. Gallen sowie der Theaterchor Winterthur – nicht unwesentlich beitragen. Am eindrucksvollsten im zweiten Akt, wo sie vorübergehend den Zuschauerraum entern und das Stück über den mit Daunenfedern ausstaffierten Bühnenrand hinaustragen – bis vier wie Schweizergardisten gewandete und den einzigen kräftigen Farbtupfer des Abends bildende Edelknaben (Sheida Damghiani, Tatjana Schneider, Theresa Holzhauser und Manuela Iacon Bühlmann) den Blick zurück zur Bühne lenken.

Elsa ersticht Friedrich von Telramund, nicht Lohengrin

Die schwierigste Aufgabe allerdings fällt Boussard und seinem Team zu – und natürlich den Sängerinnen und Sängern der Hauptpartien, unter denen die zwei Frauen besonders herausstechen: Elisabeth Teige als träumerische, liebende, verunsicherte, zuletzt tief enttäuschte Elsa, die von zartester Zuneigung bis heller Empörung alles mit ihrer warmen Stimme auszudrücken vermag. Und Elena Pankratova als dunkel glitzernde Intrigantin, die Elsa, ihr Opfer, förmlich umkreist, sie einlullt mit süssen Tönen, mit ihr gemütlich Kaffee trinkt – und sie dann wieder scharf vor den Kopf stösst. Ortrud weiss genau, was sie will.

Da hat Simon Neal als Friedrich von Telramund wenig zu bestellen, selbst wenn er durchaus kraftvoll aufzutreten vermag. Zuletzt hängt er dann tot am Bett, das im Zentrum von Vincent Lemaires raffiniert entworfener, von Guido Levi in die unterschiedlichsten Lichtstimmungen getauchter Bühne steht – erstochen von Elsa, nicht von Lohengrin, ihrem von aller Welt und auch von ihr selbst so naiv angebeteten Helden.

Doch zurück zum Weiblichen im Menschen, zurück zu Vincent Boussard. Er treibt mit diesem «Lohengrin» ein gedankenreiches Spiel. Die tapferen Krieger von Brabant tragen nicht eine Waffe. Steven Humes, der sie als Heinrich der Vogler für den Krieg gewinnen soll, tritt äusserst zivilisiert und freundlich in Anzug und Hut auf, ihm zur Seite Jordan Shanahan als Heerrufer. Der Schwan liegt zu Beginn im Bett, in dem später Elsa träumt, und taucht am Ende als totes Tier auf. Mit andern Worten: Er ist Phantom.

Martin Muehle singt sein «Ich liebe dich» aus Distanz

So wird dem Volk jener Führer vorenthalten, auf den es so sehr gehofft hat. Alle laut hinausgesungenen Heilserwartungen lösen sich in nichts auf. Auch Elsa muss ihren Weg alleine finden. Boussard rückt sie ins Zentrum, Levi übergiesst sie mit hellem Licht, so geben sie dem vor allem im zweiten Akt ungemein packenden Drama Tiefe und Aktualität. Denn obwohl Christian Lacroix sich in seinen Kostümen stark am 19. Jahrhundert orientiert, spielt sich ein Liebesdrama von heute ab.

Kann man sagen, Elsa scheitert an ihrer Sehnsucht, die sie einer unmöglichen Bedingung zustimmen lässt: Lohengrins Forderung, sie dürfe ihn nicht nach Name und Herkunft fragen? Jedenfalls kommen Lohengrin und sie sich selten wirklich nah. Martin Muehle, der ihn vor allem im dritten Akt allzu Heldentenor-haft verkörpert, ohne die erforderliche Demut und den nötigen Facettenreichtum, singt sein «Ich liebe dich» aus maximaler Distanz. Und er gibt ihr den einzigen Kuss erst, als es zu spät ist.

So wird Elsa zum Opfer. Aber sie ist auch der einzige ganze Mensch auf dieser Bühne.