Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (26.10.2016)
Premiere von Richard Wagners «Lohengrin» am Theater St. Gallen
Was will uns dieser Schwan bloss sagen? Nach über hundertjähriger Pause hat das Theater St. Gallen wieder einmal eine Inszenierung des «Lohengrin» gewagt und erinnert gleichzeitig mit einer Ausstellung im Foyer an Richard Wagners Durchreise durch die Stadt, 1849, auf seiner Flucht von Dresden nach Zürich. Regie führt Vincent Boussard, das Sinfonieorchester St. Gallen spielt unter der Leitung seines Chefdirigenten Otto Tausk. Das erste Vorspiel ist vom Ideal der entrückten Gralsaura noch recht weit entfernt. Im Vorspiel zum zweiten Akt fehlt es oft an der nötigen Homogenität des Klangs. Tausk wählt generell zügige Tempi, was bei den dramatischen Stellen gut passt, bei den verweilenden jedoch etwas gehetzt wirkt.
Mit mächtigen Stimmen sind die beiden Hauptfiguren ausgestattet. Der Lohengrin von Martin Muehle neigt dabei zum Forcieren. Die Gralserzählung, in der er seine Identität preisgibt, dürfte um einiges ruhiger beginnen. Die Elsa der Norwegerin Elisabeth Teige ist von robustem Charakter, und gleichwohl gelingen ihr auch die traumwandlerischen Partien ausgezeichnet. Ganz als bösartige Intrigantin erscheint die Ortrud von Elena Pankratova, mehr als ein ferngesteuerter Pantoffelheld ist der Telramund von Simon Neal.
Neuer Name für die Oper?
Vincent Boussard, der vor vier Jahren in St. Gallen eine bemerkenswerte Interpretation der «Salome» von Richard Strauss gezeigt hat, deutet nun auch den «Lohengrin» gewinnbringend aus der Perspektive der Frau. Wagners Oper müsste in seiner Lesart eigentlich «Elsa» heissen. Ausgangspunkt ist Elsas Traum vom Ritter, der für sie streiten soll, nachdem Telramund sie des Brudermords geziehen und einen Zweikampf als Gottesurteil gefordert hat. Während des Traums liegt Elsa in Trance auf einem Bett. Wenn dann Lohengrin tatsächlich erscheint, nimmt sie seine leibhaftige Erscheinung nicht wahr, sondern starrt in die Ferne.
Folglich entwickelt sich keine reale Beziehung zwischen den beiden Protagonisten, eher das genaue Gegenteil. Die höchste Entfremdung ist am Schluss des zweiten Aktes beim Einzug des Brautpaars in das Münster erreicht. Elsas Bett wird von vier Edelknaben hochgestemmt, sie liegt darin mehr wie eine Tote denn als Braut. Derweil hält sich der Schwanenritter wie eine Nebenfigur im Hintergrund auf. Erst in der Brautgemachsszene geschieht ein Wandel: Elsa gibt ihm als realem Mann aus Fleisch und Blut die Chance, sich als ihr Traumprinz zu erweisen – deshalb muss sie ihm die Frage nach seiner Herkunft stellen. Dies ist ein Akt der Emanzipation, und als Telramund in verbrecherischer Absicht ins Brautgemach eindringt, ist es Elsa, die ihn mit dem Schwert umbringt, nicht Lohengrin.
Das Rätsel mit dem Schwan
Den Gegensatz von Traum und Realität reflektieren auch die Kostüme von Christian Lacroix. Während die brabantischen Edlen und König Heinrich (Steven Humes) in Kleidern aus der Entstehungszeit des «Lohengrin» auftreten, steckt das Liebespaar in Phantasiegewändern. Der Bühnenbildner Vincent Lemaire arbeitet mit wenigen Dingsymbolen, was eine sehr sinnliche Wirkung erzeugt. Das Bett ist Krankenbett, Liebeslager und Bahre. Das Schwert wird als Sexualsymbol eingesetzt, Schleier und Brautkleid verdeutlichen Verwandlungen verschiedener Art. Am rätselhaftesten ist der Schwan: Vom Libretto her stellt er Elsas Bruder Gottfried dar, der von Ortrud verzaubert wurde. In St. Gallen erscheint er eher als Alter Ego von Elsa oder gar als Stellvertreter Lohengrins. In der Schlussszene wird der tote Schwan auf das Bett gelegt, und Elsa sinkt mit dem Schrei «Mein Gatte! Mein Gatte!» neben dem Bett nieder. Nie sollst du mich befragen . . .