Eine mystische Bettgeschichte

Herbert Büttiker, Der Landbote (02.11.2016)

Lohengrin, 22.10.2016, St. Gallen

Richard Wagners «Lohengrin» hat eine blausilberne Tradition. Am Theater St. Gallen weht romantische Luft im Vorhang, die Szene aber sucht mit dem grossartigen Ensemble auch nach neuen Bildern und Sichtweisen.

«Lohengrin» ist Richard Wagners beliebteste Oper, und nichts von ihm ist bekannter als der Brautchor beziehungsweise Hochzeitsmarsch aus dieser Oper, die eben Oper ist, genauer «romantische Oper», wie der Komponist das Werk selber charakterisiert hat. Es erzählt eine Geschichte voller Märchenglanz und -tiefsinn wie die «Zauberflöte», wobei Mozart die Liebe noch siegen lässt, während sie bei Wagner im Widerspruch zwischen absolutem Anspruch und Menschlichkeit scheitert. Sein Schwanenritter aus der transzendenten Welt, der Elsa vor der falschen Anklage der intriganten Gegenspieler um die Macht im mittelalterlichen Herzogtum Brabant rettet, muss wieder entschwinden: Elsa konnte es in der viel bewitzelten Szene der Hochzeitsnacht eben doch nicht lassen, ihren Angetrauten nach Namen und Herkunft zu fragen.

Ein strahlend sanfter Held

«In fernen Landen, unnahbar euren Schritten...»: In der Schlussszene offenbart sich Lohengrin in der «Gralserzählung» – Höhepunkt einer äusserst herausfordernden Partie und ein hypnotischer Moment der St. Galler Inszenierung mit dem deutschbrasilianischen Tenor Martin Muehle. Dieser verleiht dem Helden allen stimmlichen Glanz, aber auch die weiche Phrasierung und die Verklärung im Mezzavoce eines sanften, um nicht zu sagen wehleidigen Ritters. Dessen Sendungsbewusstsein hat ja seine irritierende Seite, die Absolutheit, die dieser Traummann verkörpert, ist auch kalte Egozentrik.

Als die Träumerin sieht die St. Galler Inszenierung Elsa, und so liegt sie fast Szene für Szene in ihrem Bett, schlafend, träumend, aufhorchend, zurücksinkend. Das Bett, Hauptrequisit selbstverständlich der Hochzeitsnacht, zeigt sich – ein toter Schwan liegt darin – schon zum Vorspiel auf der schrägen Rampe. Es dominiert dann über die drei Akte die ästhetisch effektvolle, blausilbern glitzernde Bühne (Vincent Lemaire) im Zusammenspiel mit exquisit materialisierten Vorhängen, apartem Licht (Guido Levi) und den im Kontrast dazu betont banal wirkenden Kostümen (Christian Lacroix): mit Gehrock und Zylinder 19. Jahrhundert für die Männer, mit Trenchcoat 20. Jahrhundert für die Frauen. Ihnen scheint hier die Zukunft zu gehören.

Verpupptes Wesen

«Die Oper müsste eigentlich ‹Elsa› heissen», meint der Regisseur Vincent Boussard, und wenn die Absicht war, sie als männliche Projektion, Wunschbild des passiven, gleichsam verpuppten weiblichen Wesens kenntlich zu machen, so hat er diese Elsa zwar manchmal forciert, aber auch adäquat in Szene gesetzt.

Auch ist da eine grossartige Interpretin für diese Traum-Figur: Die Norwegerin Elisabeth Teige verfügt über eine feinste und kraftvollste Messa di Voce für den ekstatisch visionären Charakter dieser Heldin. Sie blüht aber auch glühend auf («es gibt ein Glück, das ohne Reu») in der Selbstbehauptung im Dialog mit Ortrud und ist dramatischer Impuls in der Szene mit Lohengrin. Kein Zweifel, dass ihre Frage aus dem Innersten notwendig ist und als emanzipatorischer Akt verstanden werden kann.

Ans Bett gefesselt

Und so erweist sich denn das Bett als im wörtlichen wie übertragenen Sinn auch als ein zu enger Spielraum für die Figur. Dass ihr Verhalten vor dem Gericht auch eine Protesthaltung gegen die korrupte Wirklichkeit bedeuten könnte, ist nicht zu erkennen, und wenn sie auch am Schluss verschleiert dasteht, scheint sie Boussards Bemerkung, Elsa sei die einzige Figur, die hier eine Entwicklung durchgemacht habe, geradezu zu widersprechen.

Viel Raum für das böse Spiel

Den ganzen Raum können die Gegenspieler einnehmen, Ortrud, die hexenhafte Intrigantin, und Telramund, der von ihr angestachelte Partner. Mit Elena Pankratova und Simon Neal ist dieses Macbeth-Paar ungemein stimmstark besetzt, und das Böse hat Auslauf: Er eifert beeindruckend sogar auf dem Balkon im Zuschauerraum, sie beweist ihre Überlegenheit mit kontrollierter Klanggebung und gibt sich im umsichtigen Abschreiten der Bühne faszinierend schillernd als Dame von Welt.

Mit dem Protagonistenquartett präsentiert St. Gallen ein Wagner-Ensemble der ersten Liga, und auch die weiteren Figuren sind mit Steven Humes (Heinrich der Vogler) und Jordan Shanahan (Heerrufer) hervorragend besetzt. Mit dem Chor des Theaters St. Gallen und dem Theaterchor Winterthur steht ein grosses Aufgebot auf der Bühne – beziehungsweise für das Prunkstück des Hochzeitsmarsches leider nur hinter der Bühne. Markig meistern die Mannen das Stimmengewirr der Einwürfe, das nicht gerade zum Besten der Komposition gehört, imposant steigern sich die Klangblöcke der grossen Ensembles. Otto Tausk hat das Geschehen fest im Griff, und das Orchester ist auf der Höhe der Leidenschaftsdramatik, die er zügig angeht, und die Gralshöhen und Sehnsuchtsklänge werden fein ausgespielt, aber nicht ausgebadet. Szenisch wie musikalisch war – die Rede ist hier von der zweiten Aufführung – der mit zwei Pausen viereinhalb Stunden lange Abend von fesselnder Kürze.