Noch einmal davongekommen

Tobias Gerber, Neue Zürcher Zeitung (24.10.2016)

La Forza del Destino, 22.10.2016, Basel

Das Theater Basel knüpft mit einer Neuinszenierung von Giuseppe Verdis «La forza del destino» an seinen erfolgreichen Saisonstart an

Verdis Oper über die angeblich unbesiegbare Macht des Schicksals wartet mit einem abgründigen Finale auf. Umso mehr überrascht das doppelbödige Ende, das Sebastian Baumgarten für seine erste Verdi-Inszenierung erdacht hat.

In einer ersten Fassung 1862 in St. Petersburg uraufgeführt, steht «La forza del destino» heute in der Regel in einer von Verdi selbst erarbeiteten Zweitfassung auf den Spielplänen, die sich unter anderem durch ein leicht abgemildertes Finale auszeichnet – darin überlebt nun zumindest eine der Hauptfiguren. An Toten mangelt es ja nicht in diesem Stück: Am Anfang steht die Tötung des Marchese di Calatrava durch einen ungewollt ausgelösten Schuss aus der Pistole Don Alvaros, des Geliebten von Calatravas Tochter Leonora, der als Mestize an deren Seite vom Vater nicht als standesgemäss toleriert wird. Der Tod des Patriarchen ruft dessen Sohn auf den Plan, der nicht eher von seinem Vorhaben lassen will, bis die Rache vollzogen und Blut geflossen ist.

Diese Geschichte um Schuld und gekränkte Ehre, an deren Anfang der unglückliche Schuss steht, ist vielfach verwoben, sie spielt im engen familiären Kontext wie unter den Bedingungen des militärischen Kampfes, konfrontiert den Niedergang einer Sippe mit jenem einer staatlichen Macht und dem Elend, das der Krieg über alle bringt.

Familienehre und Xenophobie

Während im Titel das «Schicksal» seine Finger im Spiel hat, zeigt sich im tragischen Verlauf der Oper, wie die unaufhaltsame Gewalt aus den gesellschaftlichen und familiären Strukturen heraus wächst, wie Glaube und Aberglaube, Familienehre und Xenophobie das blutige Ende unvermeidbar machen – ein Ende, das sich in der anfänglichen Kriegsbegeisterung des spanischen Volkes ankündigt und schliesslich doppelt auf die vom Krieg geschundenen Menschen, die Bauernopfer übergeordneter Interessen, zurückschlägt.

Fast schon collagenhaft fügen Verdi und seine beiden Librettisten Francesco Maria Piave und Antonio Ghislanzoni unterschiedliche Schauplätze, Zeiten, Personenkonstellationen und Gefühlslagen aneinander. Was die Oper an motivischer und thematischer Vielfalt – in musikalischer wie szenischer Hinsicht – bietet, überträgt Baumgarten in eine Bildersprache, deren primäres Mittel die Behauptung pointierter Bedeutungshaftigkeit ist. Als Video auf und in die Bühnenarchitektur projiziert, begegnet den Zuschauern der sprichwörtliche Fingerzeig des Schicksals ebenso wie eine zum blossen Objekt vervielfachte Bibel, ein Militärhelikopter genauso wie ein Psalmtext. Parallelen zum eigentlichen Bühnengeschehen sind da leicht zu finden: Krieg hier, Krieg dort; wo Gewissensbisse nagen, ist die Heilige Schrift nicht weit, und was symbolisierte die Irrungen und Wirrungen einer strauchelnden imperialen Macht in diesen unseren Tagen besser als das zwischen Verführern zerrissene einfache Volk?

Zeichen allein schaffen allerdings noch keinen Kontext, und das muntere Lichtspiel bleibt in seiner assoziativen Beliebigkeit weitgehend Dekor. Im Kontrast dazu schafft Baumgarten aber immer wieder Szenen, in denen auf der (Vorder-)Bühne mit reduzierten Mitteln eine durchdringende Spannung aufgebaut wird: in der kurzen Anfangsszene des zweiten Aktes etwa, wenn der als Student verkleidete Don Carlo im Treiben einer Schenke in einem «bartlosen Bürschchen» seine ebenfalls verkleidete Schwester Leonora entdeckt zu haben glaubt und der Verdacht seine nach Blut dürstenden Rachegefühle nährt.

Zwischen den beiden Protagonisten, von dem mehrstöckigen, drehbaren Bühnenaufbau von Barbara Ehnes in gegenüberliegenden Kulissenbereichen separiert, entspinnt sich hier inmitten der trinkfreudigen Masse ein intensives Spiel der Blicke, der Sichtbarkeit, der Vermutung und der Täuschung. Während Text und Musik gewandt zwischen liturgischer Ernsthaftigkeit, Ausgelassenheit und Anspannung changieren, beherrscht schneidende Suspense die Szene: ein Moment der Verdichtung, der sich vor allem auch der Darstellung der beiden Hauptakteure – Elena Stikhina als Leonora und Vladislav Sulimsky als deren Bruder Don Carlo – verdankt.

Nach einem spannungsarmen ersten Akt, in dem die Liebe zwischen Alvaro und Leonora eher verhandelt und doziert als verkörpert wird, bringt Sulimsky in dieser Szene eine nicht zur Ruhe kommende Dynamik ins Spiel, die für den weiteren Verlauf der Aufführung zur treibenden Kraft wird. Die blinde Getriebenheit der im Libretto gezeichneten Figur setzt er dabei darstellerisch wie musikalisch kraftvoll und facettenreich in Szene. Und fast scheint es so, als ob Stikhina erst durch diese Begegnung mit dem kraftvollen Widerpart zu jenem Porträt der Leonora finde, mit dem sie deren emotionales Wechselbad zwischen Liebe, Glaube und Verzweiflung im Folgenden in der ganzen Breite überzeugend zeichnet: von zart-zerbrechlichen Passagen bis zu Momenten physisch-voluminöser Expressivität.

Während das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des jungen lettischen Dirigenten Ainars Rubikis die gestaltenreiche Musik mit ihren oft wie Erinnerungsmotive eingesetzten Melodien mit vorwärts gerichtetem Gestus spielt – nicht immer in Einklang mit den Sängern –, fällt der Tenor Aquiles Machado als Don Alvaro gegenüber den beiden anderen Protagonisten etwas ab.

Der Vernunft eine Chance!

Seine Figur gewinnt erst im dritten Akt – in einer Zweierszene wiederum mit Don Carlo – an Tiefe: Mit gezücktem Messer offenbart der Rasende dem bewegten Alvaro, dass dessen totgeglaubte Geliebte noch lebt. Für einen Moment scheint die Macht des Schicksals hier ins Wanken zu geraten: Ein friedliches Ende wäre möglich, wenn nur einer den ersten Schritt wagte und Vernunft die Oberhand behielte. Doch dazu kommt es nicht. Am Ende sind Schwester und Bruder tot und der edle Stamm ausgelöscht. Schicksalhaft daran ist wenig, wie Verdi in seiner schonungslosen Darstellung einer gebrochenen Gesellschaft klarmacht. Dass aber der überlebende Alvaro bei der ganzen Sache eine gute Portion Glück gehabt hat, das zeigt Baumgarten am Ende, wenn er ihn in namenlosem Paroxysmus gleichzeitig weinen und ungläubig lachen lässt.