Eine britische Seemannsgeschichte

Sibylle Ehrismann, Zürcher Oberländer (13.12.2005)

Peter Grimes, 11.12.2005, Zürich

Benjamin Brittens erste Oper «Peter Grimes» ist ein kritisches Gesellschaftsstück aus dem Jahre 1945 mit entsprechend grossem Chor. Der «Seebühneneffekt» war für Zürich fast zu viel des Guten.

Die Premiere am Opernhaus Zürich vom Sonntagabend zeigte den Opernhaus-Chor musikalisch wie szenisch von seiner besten Seite. Franz Welser-Möst dirigierte diesen Meilenstein der modernen Operngeschichte mit rhythmischer Schärfe und schlagkräftigen Tuttis; Regisseur David Pountney und sein Bühnenbildner Robert Israel sorgten für eine ebenso wuchtige wie überladene Szenerie. Der Tenor Christopher Ventris gab sein Debüt am Opernhaus Zürich mit einer vielschichtigen und grandiosen Grimes-Darstellung.

Hass und Habgier

Natürlich ist diese Geschichte erdrückend: Peter Grimes ist ein Fischer, der zwei hilflose Waisenjungen aus Habgier und Hass derart überfordert, dass sie tödlich verunfallen. Grimes wird zwar offiziell von der Mordanklage freigesprochen, doch die Dorfgemeinschaft macht ihn fertig. Nur die Lehrerin Ellen, die ihn liebt, nimmt ihn in Schutz und kümmert sich auch um den zweiten Jungen. Doch auch sie kann das Unheil - den Tod des Jungen - nicht aufhalten.

Pountney lässt diese ergreifende britische Seemannsgeschichte in einem mit abstrakten Segelmasten verstellten Bühnenraum spielen. An diesen Masten sitzen jeweils zwei Choristen übereinander auf einem fixierten Stuhl und werden so zum festen Bestandteil des Bühnenbilds. Sie hocken dort den ganzen Abend lang und überladen die Bühne mit ihrer erdrückenden Präsenz.

Roter und gelber Mond

Die Protagonisten treten auf zwei Spielebenen auf: unten auf der Bühne und erhöht auf einer Passerelle. Da die Choristen ansonsten sehr individuell geführt werden, gehen die Solisten zeitweise im Wirrwarr an Menschen fast unter. Kommt dazu, dass im Hintergrund auf dem Bühnenprospekt zwei riesige Mondhälften abgebildet sind: der eine Mond wird rot, wenn's auf der Bühne brenzlig wird, der andere ist gelb. Auch das wirkt wuchtig. Eine solche in die Höhe getriebene Szenerie mag auf der offenen Seebühne in Bregenz, wo Pountney künstlerischer Leiter ist, ihre grossartige Wirkung tun. Auf der Bühne im Opernhaus Zürich ermüdet das im Laufe des Abends enorm; es macht einen ganz konfus. Derart «wuchtig» ist Brittens Werk, so gross besetzt es auch sein mag, einfach nicht.

Es geht um ein abgelegenes Dorf an der Küste, in dem ein Aussenseiter subversiv, und nicht derart vordergründig fertig gemacht wird. Und auch der Szeneriewechsel in die Hütte von Grimes, einzig durch eine seitliche Wand mit «ordnenden» Haken und Fischerutensilien angedeutet, geht in diesem Einheitsbühnenbild unter.

Das wetterwilde Küsten-Ambiente schafft vor allem die Kostümbildnerin Marie Jeanne-Lecca mit schlichten grauen Leinenkleidern, beinhohen Wasserstiefeln und sandverschmutzten Hosen. Wirkungsvoll ist auch der Pullover von Peter Grimes mit einem «Meeres(traum)bild» auf der Brust.

Zwischen Liebessehnsucht und Hass

Der britische Tenor Christopher Ventris übertrug die Symbolkraft dieses Pullovers mit starker Identität und fazettenreicher seelischer Differenzierung. Diese enorm fordernde Tenorpartie, welche Britten für seinen Lebenspartner Peter Pears komponiert hat, scheint Ventris wie auf den Leib geschrieben. Das Schwanken zwischen Liebessehnsucht und Hass, Heimattraum und gequälter Seele gestaltete dieser Ausnahmesänger mit subtil aus dem gesungenen Wort entwickelter Tongebung: feine Schattierungen, sehnsüchtiges Aufleuchten und dramatischer Ausbruch bis in den Wahn - alles so gesungen, als wäre das kein Problem.

Und daneben Emily Magee als Ellen Orford. Sie sang nicht nur mit betörender stimmlicher Leuchtkraft, sondern auch mit weitatmigem Legato und unerhörter Ruhe. Auch das Kippen der Hoffnung in Einsicht wurde von ihr mit jeder Phrase ausformuliert. Neben diesem alles überragenden Paar wurden auch die Nebenfiguren charakteristisch gezeichnet: Alfred Muff verbreitete als Captain Balstrode eine wohltuende Souveränität, Liliana Nikiteanu sorgte als Auntie für erfrischende Farben, zusammen mit ihren beiden quirligen «Freudenmädchen»-Nichten Sandra Traating und Liuba Chuchrova. Rudolf Schasching gab einen wuchtig präsenten Bob Boles, Richard Angas sang den Swallow hell und wendig, und Cornelia Kallisch gab mit Mrs. Sedley ein echt komisch moralisierendes englisches Fräulein.

Spitze Schärfe, kompakte Wucht

Der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor des Opernhauses Zürich wurde zwar szenisch ausgesprochen heterogen geführt; er sang seine grossen und harmonisch reichhaltigen Partien aber erstaunlich kompakt. Franz Welser-Möst hielt diesen grossen Apparat mit energischem rhythmischem Verve zusammen, verlieh Brittens suggestiver Musik dadurch jedoch eine spitze Schärfe und kompakte Wucht. Auch das Orchester spielte brillant präzise und hielt mit Schlagkraft nicht zurück.

Fast den ganzen Abend derart «angewuchtet» von Musik und Szene, erfreute man sich um so mehr an den kammermusikalischen Momenten: am herrlichen Damenquartett im 3. Akt mit dem sich wiederholenden «enttäuschten» Abgesang der Holzbläser, an den verzweifelten Arien von Grimes und Ellen, und an den eher ruhigen, stimmungsvollen Zwischenspielen des Orchesters. Das Publikum spendete allen Beteiligten begeisterten Schlussapplaus.