Christian Wildhagen, Neue Zürcher Zeitung (24.01.2017)
Marc-Antoine Charpentiers «Médée» ist ein Meilenstein der französischen Barockoper. William Christie sorgt mit einem grossartigen Ensemble für musikalische Glanzlichter. Nur die Regie von Andreas Homoki, den manche vor einem Wechsel nach München sehen, verrennt sich.
Will er Zürich wirklich den Rücken kehren? Gerade erst hat Opernhausintendant Andreas Homoki einen mehr als ordentlichen Geschäftsbericht für die Spielzeit 2015/16 vorlegen können – mit einer Auslastungsquote von gut 83 Prozent in der Opernsparte und einer Eigenfinanzierung von beachtlichen 38,2 Prozent. Und auch sonst ist der frühere Leiter der Komischen Oper mit dem schwierigen Erbe Alexander Pereiras erstaunlich reibungslos zurechtgekommen, allen gegenteiligen Prophezeiungen zum Trotz. So scheint das Opernhaus Zürich am Beginn von Homokis fünfter Saison, trotz einer Kürzung der öffentlichen Zuwendungen um zwei Prozent, wirtschaftlich wie künstlerisch sehr gut aufgestellt.
Dennoch hält sich seit Wochen das Gerücht, Homoki liebäugle mit einem Wechsel an die Bayerische Staatsoper. In München wird 2021 nämlich nicht nur der gefeierte Generalmusikdirektor Kirill Petrenko sein Amt aufgeben, um als Chefdirigent zu den Berliner Philharmonikern zu gehen – auch Staatsintendant Nikolaus Bachler wird dann auf eigenen Wunsch seinen Hut nehmen. Für Deutschlands führendes Opernhaus wird somit gleich ein neues Leitungsduo gesucht. Flugs rief man deshalb Zürichs Generalmusikdirektor Fabio Luisi als idealen Petrenko-Nachfolger aus, sozusagen im «Doppelpack» mit Homoki.
Die «üblichen Verdächtigen»
Beide Künstler dürften sich ob dieser Wertschätzung geschmeichelt fühlen, verhalten sich aber, wie sich ein Profi in solchen Fällen verhält: Sie wiegeln erst einmal ab. Er sei «sehr glücklich am Opernhaus Zürich», lässt Homoki auf Anfrage verlauten. «Ich hatte bisher keinen Anlass, über eine Intendanz in München nachzudenken, und wurde auch nicht angefragt.»
Das kann man glauben – oder die Situation einfach kühl analysieren. Für zwei der attraktivsten Posten in der europäischen Musikwelt, wie sie 2021 in München frei werden, sind selbstredend alle Leiter sogenannter A-Häuser – zu denen Zürich allein schon aufgrund des hier zur Verfügung stehenden Etats gehört – sowie weiterer profilierter Bühnen denkbare Kandidaten. Und so erstaunt es nicht, dass an der Isar neben Homoki noch andere der «üblichen Verdächtigen» im Gespräch sind. Etwa der immer wieder – und zu Recht – für bedeutende Posten gehandelte Lyoner Intendant Serge Dorny oder sein Frankfurter Kollege Bernd Loebe.
Die völlig unerwartete Berufung des Sony-Managers Bogdan Roscic zum neuen Direktor der Wiener Staatsoper ab 2020 zeigt indes auch die Unwägbarkeiten solcher Spekulationen auf. Und angesichts der jüngsten Premiere in Zürich, einer vom Hausherrn selbst inszenierten Neuproduktion der Oper «Médée» von Marc-Antoine Charpentier, kam man noch in anderer Hinsicht in Zweifel, ob das künstlerische Profil des regieführenden Intendanten Homoki wirklich geeignet wäre für die Bayerische Staatsoper.
Infernalische Mésalliance
Als Regisseur steht Homoki seit Jahrzehnten für ein Musiktheater, das tiefgehende Analyse mit szenischem Handwerk verbindet und dabei in der Regel gekonnt die Balance hält zwischen einem unaufdringlichen Gegenwartsbezug und Werktreue im klug weitergedachten Sinne. Namentlich in der regelmässigen Zusammenarbeit mit dem Ausstatter Wolfgang Gussmann führte dies früh zu einem Personalstil, der in seiner gemässigten Modernität selbst für dogmatische Verfechter eines traditionellen Bühnennaturalismus in der Oper keine völlig unverdaulichen Zumutungen bereithielt.
Bei seiner neuen Zürcher «Médée» allerdings kippt diese sorgsam gewahrte Balance. Hier will Homoki zu viel und zu wenig zugleich. Erkennbar und einleuchtend ist der Regieansatz, die archaische Rachetragödie der Kindsmörderin aus Eifersucht in einen leichteren, gar durch humoristische Einlagen scharf kontrastierenden Rahmen zu fassen – wohl in Analogie zu der unterhaltenden Funktion, die Charpentiers Oper ungeachtet der blutigen Handlung bei ihrer Uraufführung 1693 am Hofe Ludwig XIV. zu erfüllen hatte.
Freilich erschliesst sich nicht, warum Homoki dabei immer wieder Zuflucht nimmt zu Stilmitteln der Operette, des Variétés und manchmal sogar der Schmierenkomödie, so dass die Aufführung bisweilen, etwa in Medeas Beschwörung der Höllengeister, wirkt, als seien hier «Frau Luna» und «Orpheus in der Unterwelt» eine infernalische Mésalliance eingegangen.
Auch die für Homoki-Inszenierungen typische Strukturierung des Geschehens durch sich öffnende und schliessende Kulissenwände (Bühne: Hartmut Meyer) – und hier speziell durch einen ständig auf- und niederfahrenden, bühnenbreiten Steg, auf dem die triumphierende Medea schliesslich gen Himmel rauscht – führt nicht zu szenischer Variabilität oder einem Fliessen der Bilder, sondern recht bald zu Vorhersehbarkeit und Monotonie.
Im Vergleich mit Nicolas Briegers unaufgeregter, betont werkdienlicher Inszenierung der «Médée» vor genau zwei Jahren am Theater Basel, die gerade durch ihre Zurückhaltung ungeheure Wirkung entfaltete (zumal mit Magdalena Kozená in der Titelrolle), nehmen sich beispielsweise die stilistisch irrlichternden Kostüme (Mechthild Seipel) für den ohnedies hervorragend wandlungsfähigen Chor (Einstudierung: Jürg Hämmerli) nicht bloss überambitioniert aus – sie lenken auch von der eigentlichen Tragödienhandlung ab.
Musikalisches Spitzenniveau
Das ist umso mehr zu bedauern, als Stéphanie d'Oustrac in der Rolle der Medea der stimmlich mit kleineren Mitteln haushaltenden Kozená nicht im mindesten nachsteht, überaus eindrucksvoll namentlich in der grossen Soloszene mit der grausigen Anrufung der «filles terribles du Styx», dem bis zu Verdi vorausweisenden Höhepunkt der Oper. Ebenso geben Mélissa Petit als heimtückisch von Medea zu Tode gebrachte Nebenbuhlerin Créuse und der mit einem raren Haute-Contre gesegnete Tenor Reinoud van Mechelen als Jason dieser Aufführung vokalen Glanz, wirken aber häufig verloren vor dem kunterbunten Hin und Her von Kostümen und Kulissen rund um sie herum.
Dabei steht das Kraftzentrum der energiegeladenen Aufführung ohnehin im Graben. William Christie hat schon 1984 für die Rückkehr von Charpentiers Werk ins Repertoire mutiger Bühnen gesorgt. Mit dem hauseigenen Orchestra La Scintilla, erweitert um Mitglieder seines Ensembles Les Arts Florissant, führt Christie nun seine überlegene Werkkenntnis vor Ohren: in einer keineswegs abgeklärten, vielmehr klangsatten, immer rhetorisch aus dem Sprachfluss gestalteten Lesart.
Dies war ohne Frage das in Zürich zu erwartende Spitzenniveau, vom Publikum entsprechend einhellig bejubelt. Dass Homoki hingegen für seine fahrige Regie andernorts, etwa in München, mit dem gleichen, kaum getrübten Zuspruch bedacht worden wäre, darf bezweifelt werden.