Joseph Auchter, Seniorweb (23.01.2017)
Die erste Begegnung mit einer Barockoper von Marc-Antoine Charpentier ist einer Reihe von Glücksfällen zu verdanken, auf welche das Zürcher Opernhaus stolz sein darf.
Es ist nach der choreographischen Umsetzung von Verdis „Requiem“ die nächste positive Wegmarke im diesjährigen Spielplan. Ohne den eminenten Kenner und Sachwalter des französischen Barock, William Christie, wäre es eher nicht dazu gekommen. Aber ohne „La Scintilla“, unserer verschworenen Orchestergemeinschaft, einem Gradmesser authentischer Aufführungspraxis seit der Gründungszeit unter Nikolaus Harnoncourt, wäre wohl Christie nicht zu gewinnen gewesen. Und ohne beider Schulterschluss wäre es sicher fast unmöglich geworden, ein derart erlesene Solistenschar zu verpflichten, die mit dem französischen Idiom und der geforderten sprachlichen Agilität derart eng vertraut ist. Dass Intendant und Regisseur Andreas Homoki sich und uns damit einen Wunschtraum erfüllen konnte, hat damit zu tun, dass er mit dem Wahlfranzosen bereits einmal eine Charpentier-Oper realisieren konnte. Die Begeisterung war fast einhellig.
Der Tragödienstoff der „Medea“ ist erschreckend zeitlos
Der Medea-Stoff und seine mythologische Frauengestalt, die aus entfesselter Rache ihre Kinder tötet, treibt die Menschheit seit der Antike um. Die Weltliteratur, die bildende Kunst und die Musik kreisen seit Urzeiten um das Phänomen der mit Zauberkräften ausgestatteten furiosen Köngistochter Medea. Die Tragödien des Euripides, Senecas wie die Metamorphosen Ovids stehen für prägende Deutungsversuche, welche die Komponisten Cavalli (1649), Lully (1675), Charpentier (1693), Händel (1713) und Cherubini (1797) - übrigens ein Welterfolg mit Maria Callas - bis zu Rolf Liebermann (1995) zu bewegenden Musikdramen inspirierte.
Ein Gesamtkunstwerk - und ein Geheimnis
Und man kann sich diesem Sog auch in der Interpretation durch das Gespann William Christie und Andreas Homoki kaum entziehen. Man glaubt es dem Hausherrn langsam, dass ihm die Theaterarbeit auf den Nägeln brennt und er den Intendanten von Zeit zu Zeit gerne in den Wandschrank hängt. Eben ist seine „Wozzeck“-DVD als beste Performance international ausgezeichnet worden, und das Haus scheut keinen Aufwand - das Lob an die Bühnentechnik mit Sebastian Bogatu ist längst fällig! - dass auch diese Produktion einen weiteren Meilenstein setzt.
Man bedenke, Zürich hat keine zufahrbaren Nebenbühnen wie andere Operntempel, alles muss in relativ beengenden Verhältnissen verschachtelt, aufgehängt, hintangestellt und zentriert werden. Bühnenbildner Hartmut Meyer schafft das Unmögliche durch eine fahrbare zweite horizontale Ebene, welche die Gegenwelten in ständiger Bewegung aufeinander zu- und wieder wegdriften lässt, und er weitet den Blick auf eine monumentale rote Treppe und eine Riesenlauftrommel, auf der sich Chor und Statisten in wechselnden Konstellationen von der Baseballmannschaft über die Soldateska, von weiblichen Gespielinnen bis zur Totenkopfarmada aus dem Hades ihr Stelldichein geben. Natürlich kann einem Homokis Hang zu überkandidelter Bebriebsamkeit in den Bewegunsszenen auch ordentlich auf den Keks gehen, handkehrum entstehen zauberhafte Stimmungsbilder, die auf den Punkt bringen, wenn er im Programmheft meint: „Es ist immer sehr schön, wenn in der Probenarbeit Momente entstehen, in denen das Stück selbst die Führung übernimmt und wir ihm alle folgen.“ Ja, diesem Geheimnis folgt man szenisch wie musikalisch mit wachsender Intensität.
Die Superlative gehören den Interpreten
William Christie bringt alles nach Zürich, was Rang und Namen hat, seit er 1984 mit „Les Arts Florissants“ Charpentiers „Médée“ zum ersten Mal realisiert hat. Mit Stéphanie d’Oustrac als Titelgestalt steht ihm ein Juwel der Klangdeutung, der Sprechkunst und der darstellerischen Hingabe zur Verfügung, dem auch Reinoud Van Mechelen als ungetreuer Jason in nichts nachsteht. Was für ein erlesener Hörgenuss! Wunderbar zudem, wie sich Mélissa Petit als Gegengespielin Créuse und Nahuel di Pierro als König Kreon in den irisierenden Wohlklang einfügen, den ruppigeren Ivan Thirion als Oronte nicht ausgenommen. Glanzlichter setzten auch die fünf Contra-Altisten aus den "Arts Florissants" und der von Jürg Hämmerli beherzt einstudierte Chor.
Und wenn dann der charismatische Spiritus Rector vom Cembalo aus mit unnachahmlicher Galanterie und zupackender Dramatik das Continuo mit den phänomenalen Lautisten Brian Feehan und Juan Sebastian Lima, dem Gambisten Martin Zeller, dem Cellisten Claudius Herrmann und Dieter Lange am Violone anfeuert, dann springt der Funke von „La Scintilla“ vollends auf die begeisterten Zuhörer über.