Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (24.01.2017)
Marc-Antoine Charpentiers «Médée» am Zürcher Opernhaus ist musikalisch eine Wucht.
Eine Frau steht da, dunkel, schmal, stark; sie singt von Rache, und es läuft einem kalt den Rücken herunter. Dann öffnet sich unter ihr ein Tor, Figuren wie von einer mexikanischen Totenfeier quellen heraus, überall Totenköpfe, Knallfarben, grässlich verformte Gestalten – und man lehnt sich zurück: ach so, Theater.
Es ist eine seltsame Sache mit dieser «Médée» von Marc-Antoine Charpentier, uraufgeführt 1693 im Palais Royal des Sonnenkönigs Louis XIV und 1984 wieder ausgegraben vom Dirigenten William Christie, der nun auch vor dem Zürcher Orchestra La Scintilla steht. Da ist diese Musik, die pausenlos durch den Abend fliesst und einen beglückt und erschüttert, obwohl sie scheinbar gar nicht viel tut dafür. Und da sind die Bilder, die Andreas Homoki dafür gefunden hat: hoch expressive Bilder, deren Wirkung sofort verpufft; und radikal reduzierte, in denen sich die ganze Wucht dieser Tragédie lyrique konzentriert.
Denn dieser Geschichte ist mit den üblichen Mitteln nicht beizukommen. Im Zentrum steht Medea, die Jason liebt und den Verlust dieser Liebe so masslos rächt wie keine andere Figur der griechischen Mythologie. Alle müssen sterben, Jasons neue Geliebte Créuse, deren Vater Kreon, selbst ihre eigenen Kinder tötet Medea (in einer glücklicherweise unblutigen Szene). Sie will Jason leiden sehen, da ist kein Preis zu hoch.
Amouröse Symmetrie
Exzessive Liebe, grenzenloser Hass: Zwischen diesen Polen spielt die Geschichte, ohne dass viel passieren würde. Gut drei Stunden dauert die nur um den Prolog gekürzte Zürcher Aufführung, und es ist kein Action-Theater. Da gibt es zwar die damals üblichen Verwirrungen und Intrigen, aber sie wiederholen sich bald einmal. Der zusätzlich zum antiken Personal auftretende Fürst Oronte, der Créuse vergeblich anhimmelt, sorgt für einige Aufregung – aber auch für jene amouröse Symmetrie, die ebenso zu den Prinzipien des frühen französischen Musiktheaters gehörte wie die tänzerischen «Divertissements».
Auch die Musik klingt so prächtig und innig und geschmeidig, wie französische Barockmusik nun mal klingt– und so hell und melancholisch wie immer, wenn Christie (als Dirigent und Cembalist) die Hände im Spiel hat. Nur gelegentlich schnappt einem Sänger die Stimme über vor Verzweiflung oder Wut, oder die Perkussion wird ein bisschen rabiater bedient als üblich. Ansonsten gibt es kein Spektakel, keine Knalleffekte, aber sehr viel wärmenden Schönklang.
Dennoch wirkt nichts gepudert in dieser Musik. Sie mag über dreihundert Jahre alt sein, aber sie packt einen hier und jetzt, mit ihren Farben, mit ihrer emotionalen Wahrhaftigkeit. Im flüssigen Wechsel zwischen Lautenbegleitung und Vollbesetzung, zwischen fantasievollen Bläser- und schmissigen Streichersätzen, zwischen Chortableaus und intimen Dialogen erzählt sie von der Liebe. Man hört genau, wo diese Liebe echt ist und wo nur vorgetäuscht, wo sie zärtlich bleibt und wo sie ins Zerstörerische kippt.
Und man lernt, sich regelrecht zu fürchten vor Medea. Denn die französische Mezzosopranistin Stéphanie d’Oustrac, die schon lange in Christies Ensemble Les Arts Florissants mitwirkt, entwickelt in dieser Rolle eine schlicht atemberaubende stimmliche und szenische Präsenz. Als Fremde kommt sie auf die Bühne (Mechthild Seipel hat ein vage afrikanisches Kostüm und eine medusenhafte Rasta-Frisur für sie entworfen), und fremd bleibt sie: im Reich des Kreon, in dem sie mit Jason aufgenommen worden ist, und in der Welt überhaupt. Kein Monster ist sie, sondern ein Mensch, der zu vieles verloren hat und nun auch noch den Rest draufgibt, zerrissen von einem Hass, der ihr übernatürliche Kräfte verleiht. Dass sie zaubern kann, glaubt man ihr, schon lange bevor sie die Höllentore öffnet.
Jason dagegen ist ein richtiger Normalo, mit Mèchen in der Föhnfrisur und einer grossen Sehnsucht nach unkomplizierter Liebe. Reinoud Van Mechelen, auch er ein langjähriger Christie-Vertrauter, gibt ihn mit lichtem Tenor und weicher Gestik. Kein Zweifel, er hat sich sofort wohlgefühlt im Reich des Kreon, der eine so schöne weisse Uniform trägt und eine so blonde, glockenhell singende Tochter (Mélissa Petit) hat.
Variété wie bei Madonna
Kreon seinerseits ist als Herrscher, nun ja: ein wenig abgeschlafft, und Nahuel di Pierro zeigt dies seiner markanten Stimme zum Trotz überaus anschaulich. Dass sein Heer in der allerersten Szene als Cricketmannschaft auf die Bühne stürmt, wirkt zunächst wie ein etwas dämlicher Regiescherz; aber es passt bestens zu dieser Welt, die an die Macht der Orden und Titel und der feschen Kostüme glaubt. Und die keine Ahnung davon hat, welche Macht eine Medea entfesseln kann.
Bühnenbildner Hartmut Meyer dagegen weiss es. Er hat eine Platte in den Raum gehängt, die sich hebt und senkt: eine grandiose und sehr konkret nutzbare Metapher dafür, wie hier Personen getrennt oder erdrückt oder in andere Sphären gehoben werden. Ebenso symbolträchtig ist der Hintergrund der Bühne, der sich aufschieben lässt und sich dann etwas allzu oft direkt vor der Nase des betrogenen Oronte (Ivan Thirion) wieder schliesst.
Für Andreas Homoki bietet dieses Tor auch die Möglichkeit, die karge Bühnengeometrie durch Blicke in üppigere Szenerien aufzulockern. Nicht nur die Wesen der Unterwelt kommen von dort- her, sondern auch die bonbonbunten Damen mit den Zuckerwatten-Perücken, die Kreon bezirzen. Das endlose Variété mit Amor spielt ebenfalls dort, auf einer roten Treppe, die heftig an das Video zu Madonnas «Material Girl» erinnert.
Schön sieht das alles aus, es glitzert prächtig und gern auch ironisch; aber es verkleinert die Geschichte und die Gefühle dieser «Médée». Variété gegen Verrat, Sport gegen Kindermord: Das ist Theater-Bling-Bling gegen ein existenzielles Grauen, das keine Dekoration erträgt. Sondern nur diese Musik, die gnadenlose Bühnenmechanik. Und die Medea, allein und schmal und stark, die von Rache singt.