Revue und mörderischer Furor

Herbert Büttiker, Der Landbote (24.01.2017)

Médée, 22.01.2017, Zürich

Für Spektakel, Ballett und Zauberei der Barockoper findet Andreas Homoki die Mittel im Theater der Gegenwart. William Christie gibt Charpentiers «Medée» den «originalen» Klangrausch – ein Mix, der nicht allen gefiel.

Dass am Tage der Premiere der Fall Flaach wieder in Erinnerung gerufen wurde, ist wohl purer Zufall. Die «SonntagsZeitung» publizierte Aufzeichnungen der Frau, die in Flaach ihre beiden Kinder getötet hatte. «Ich habe sie beschützt vor einer schlimmen Zukunft», deutete sie selber ihre ungeheure Tat. Gemäss Statistik entspricht das den meisten Fällen von Kindstötung. In nur zwei Prozent der Morde handle es sich darum, dem Partner Leid anzutun – von einem dieser raren Fälle handelt eine der berühmtesten Geschichten der Weltliteratur, die Geschichte von Medea, die seit fast zweieinhalbtausend Jahren immer wieder erzählt wird.

Mit der Tragödie von Euripides betrat Medea 431 v. Chr. die Bühne, vom Dramatiker erst zur Mörderin ihrer Kinder gemacht. Als Zauberin göttlicher Abstammung, die aus Liebe zu ihrem Geliebten und Gatten keine Untaten scheut, ist sie gezeichnet. Sollte sie im Hass vor dem Schlimmsten zurückschrecken, als Barbarin ausgegrenzt, als Frau wehrlos und verraten?

Vom Griechen Euripides über den Römer Seneca zum Franzosen Pierre Corneille (1635) führt der Weg Medeas auf der Schauspielbühne. Thomas Corneille, der jüngere Bruder des grossen Klassikers, brachte «Medée» zusammen mit dem Komponisten Marc-Antoine Charpentier 1693 als Tragédie en musique im Palais Royal auf die Opernbühne. Viele Komponisten sollten folgen – Luigi Cherubinis Version von 1797, mit Maria Callas wieder zu Ehren gekommen, ist die bekannteste.

William Christies rauschender Barock

Die Renaissance für Charpentiers «Medée», dessen eigenständiger, auf die subtile Entwicklung der Beziehungen hin geformter Umgang mit dem Stoff verblüffend modern wirkt, begann in den 1980er-Jahren dank dem Einsatz von William Christie. Der Barockspezialist dirigiert das Werk nun auch in Zürich, und ganz in seinem Element, animiert er das mit Mitgliedern seines eigenen Ensembles Les Arts Florissants erweiterte Barockorchester des Opernhauses zu einem üppigen, unaufhörlich wogenden Klangfluss voller Katarakte und Stellen mäandernder Weite. Zarte Flöten wechseln mit aufbrausenden Streichern, häufige Tempowechsel und rhythmische Zäsuren formen ein konzentriertes und farbiges Geschehen.

Antike, Barock oder Gegenwart – nichts davon oder alles in einem scheint sich das Inszenierungsteam um Andreas Homoki gesagt zu haben. Hartmut Meyers ingeniöses Bühnenbild zeigt keine archaische Welt und kein Flaacher Einfamilienhaus, sondern eine eindrucksvolle Raumkonstruktion mit zwei Ebenen in der Höhe und einer mächtigen Schiebewand, die den Raum vertikal teilt.

Oben und unten, Macht und Ohnmacht

Ein Laufrad für den Chor und eine Revuetreppe sind weitere bewegliche Elemente der faszinierenden Anlage, die Homoki für eine spannende Personenführung nutzt. Die obere Ebene hebt und senkt sich, die einen müssen manchmal untendurch, die anderen treiben oben ihr abgehobenes Spiel, und am Ende triumphiert Medée, für Jason in unerreichbarer Höhe.

Und wie sie da steht, in ihrem archaisch roten Tuch, dem wilden Haar, ist sie ganz die Medea des Mythos geworden. Raffiniert spielt die Inszenierung mit diesem Gewand, das ihr Jason abbettelt, um es der Rivalin zu schenken, und ohne zu wissen, dass es ihr den Tod bringt. Im Kontrast dazu hüllen Mechthild Seipels unmissverständlich etikettierende Kostüme die Korinther in sonntägliches und sportliches Weiss: Cricket ist die Leidenschaft der Haute Volée. Weisse Uniform trägt der Autokrat Créon, bauschig bunter Barock und krude Totenschädel-Maskerade gibt es beim Auftritt reizender Geistwesen und finsterer Dämonen.

Charpentiers Oper macht einen breiten Spagat. Zum einen ist da ein ungemein differenzierter, dramaturgisch stringenter Text, der wortmächtig vertont ist, deklamatorisch frei changierend zwischen Rezitativ, Arioso, kurzen Arien und Duetten. Zum anderen schliesst jeder Akt in Ballettszenen, die wie Medées Beschwörung der Geister teils mit der Handlung direkt verknüpft sind, teils aber auch nur allegorischen Charakter haben. Das «Divertissement» als eigene Kunst wäre hier gefragt. Die Inszenierung verschmäht sie und spinnt in den teils ausufernden Chorund Tanzsätzen den dramatischen Faden pantomimisch und schauspielerisch weiter – ideenreich gewiss, aber in der Länge auch belanglos wirkend.

Man empfindet die Verflachung umso mehr, als die Monolog- und Dialogszenen von unmittelbar packender Wirkung sind. In den beiden ersten Akten vergibt sich die Regie allerdings einiges, indem sie Créon und Orontes als Slapstick-Komödianten behandelt und so das abgefeimte Intrigenspiel platt erscheinen lässt. Höhepunkte folgen sich dann aber Szene auf Szene vom dritten Akt an. Medée nimmt verzweifelt und energisch das Heft in die Hand, und Stéphanie d’Oustrac ist als Titelheldin darstellerisch und musikalisch fulminant in der Lage, mit allen Nuancen und Stärkegraden die Szene zu beherrschen: Bewegend das letzte Gespräch mit Jason, noch einmal der Versuch, zärtlich und drohend, ihn zurückzugewinnen; der aufgewühlte Monolog, der zum Giftplan führt, und – das gibt es in keiner «Medea» vor Charpentier – der Versuch, alles noch zu wenden: Dem hingehaltenen Verlobten Orontes öffnet sie die Augen, Créon droht sie mit Proben ihrer Zaubermacht – da kommt die Komödie zu ihrem Recht – und verlangt von ihm, dass er seine Tochter mit Orontes vermählt, und auch diese bekommt die Chance, auf Jason zu verzichten. All dem zum Trotz bleibt Medée nur das Furioso der Rache, und auch das beherrscht Stéphanie d’Oustrac mit jeder Faser.

Steigerung bis zur Götterdämmerung

Es folgen Wahnsinn und Selbstmord Créons, der blindwütig Orontes tötet, der Tod Créuse’, die in tändelnden Liebesszenen mit Jason – auch das ein grandioser Zug des Dramas – bis zum berührenden Sterbegesang Medées Kampf kontrastiert. Alle Figuren gewinnen in diesen Szenen an Statur: Mélissa Petit mit lichtem Sopran als Créuse, Reinoud Van Mechelen mit tenoraler Intensität als Jason, und auch Créon (Nahuel di Pierro) und Orontes (Ivan Thirion) wechseln gekonnt vom komischen ins dramatischexpressive Fach.

Deklamatorische Stimmgebung steht im Vordergrund, und es gibt etliche weitere Rollen, darunter gewichtige wie Carmen Seibel als Medées Vertraute Nérine oder Florie Valinquette als L’Amour. Eine kleine italienische Ariette (schön serviert von Sandrine Droin) setzt einen neckischen Kontrapunkt im expressiven Stil. Prominent mit im Spiel ist der Chor in den Divertissements, er beklagt auch Créons Schicksal – das Werk aber geht im kurzen und heftigen Dialog von Medée und Jason fast irritierend nüchtern zu Ende, und warum die Inszenierung nichts tut, um der Szenenanmerkung des Librettos Genüge zu tun – die zerfallenden Statuen, der brennende Palast: die Götterdämmerung einer höfischen Männerwelt –, bleibt ein Rätsel.