Schon wieder eine Oper über Opfer

Manuel Brug, Die Welt (29.11.2006)

Don Carlos / Don Carlo, 26.11.2006, Basel

Don Carlos wird zum Selbstmordattentäter. Calixto Bieito inszeniert Verdis Oper in Basel. Der Opernregisseur nennt seine radikal erhellende Sichtweise "Ein surrealistisches dramatisches Gedicht".

Er würde es auch fertig bringen, aus Donizettis "Liebestrank" ein nicht nur tränenreiches, sondern auch blutiges Splatter-Festival zu fabrizieren. Insofern bewegt sich der katalanische Jesuitenzögling Calixto Bieito in "Don Carlos", mit dem er am Theater Basel sein so bejubeltes wie abgelehntes Schweiz-Debüt gab, auf äußerst vertrautem Terrain.

Schon wieder eine Oper über Opfer also. Dafür hat Bieito freilich diverse Kronzeugen: natürlich Verdi mit seiner todessüchtig sich davon schaukelnden, dann wieder lastend auswegslosen Musik und seiner antikirchlichen Einstellung. Auch den doktrinären Katholizismus selbst sowie die spanische Inquisition mit der Symbolkraft ihrer Zeichen. Dazu die verzückt leidenden, von den Malern des "Siglo d'Oro" verklärten Märtyrer. Und natürlich den iberischen Surrealismus von García Lorca bis Dalí, von Buñuel bis Almodovár.

Calixto Bieito nennt seine vorhersehbar eingeengte, stellenweise radikal erhellende, ja anrührende Sichtweise "Ein surrealistisches dramatisches Gedicht". Man spielt die fünfaktige, leicht gekürzte französische "Carlos"-Fassung; er hat viel Zeit. Die hat auch Bálázs Kocsár, der mit seinem beflissenen Orchester bedächtig das Bassfundament dieser wundervoll dunklen Partitur betont und erst am Ende in sich wiegenden Flötentönen und zarten Streichern Heil in der Transzendenz findet.

Dann ist auch klar, warum ein Todesbote den Rucksackjüngling Carlos des flach singenden, nicht lupenrein intonierenden Keith Ikaia-Purdy gleich zu Anfang gefällt und in einen Käfig gesperrt hat. Denn im Finale wird der zu sehr geliebte Stiefsohn von seiner Mutter Elisabeth zum Selbstmordattentäter hochgerüstet. Wenn der vom dornengekrönten Christus zur Transe mutierte Mönch alias Karl V. (Andrew Murphy) ihn in sein Reich ruft, drückt er den Zünder und die Bühne (von Ariane Isabell Unfried und Rifail Ajdarpasic) steht in Flammen: die oft blutrot leuchtenden Lettern "FELIPE II" an der Rückwand, wie auch die knallbunten Metallteile und das Palmenwäldchen, die den Atocha-Bahnhof in Madrid beschwören, den Ort des islamistischen Attentats von 2004. Die religiösen Fanatiker sind überall. So erklärt Bieito wohl, warum ausgerechnet der Großinquisitor, hier mit eherner Bassschwärze von Allan Evans als ein Buchhalter des Bösen verkörpert, sich auf einem Gebetsteppich gen Mekka beugt.

Am Anfang wurde zunächst lustvoll die katholische Ikonografie demaskiert. Später wird solches wütend exerziert, in seiner gleichmacherischen Dauerbrutalität schließlich auch anödend. Graf Lerma ist der schwarze Priester-Todesengel, der Page Thibault schwebt als weißer Putto am Stahlseil. Die Elisabeth der zunächst steifen, dann weich ausschwingenden, aufrichtig vokalisierenden Mardi Byers ist eine Madonna mit Kind, sie labt Carlos mit ihrer Milch - direkt aus der nackten Brust. Prinzessin Eboli ist eine blondperückte, laszive TV-Tussi. Der König Philipp des elegant sonoren Stefan Kocán pflegt zunächst als erster Gärtner des Staates seine Bonsais; unter denen zieht Graf Posa (im weißen Playboy-Anzug und im Tod wie der Heilige Sebastian: Marian Pop) eine Leiche hervor.

Später zwingt Philipp seine Frau, den Pagen zu erschießen. In seiner großen Arie vergewaltigt er die Schlafende, lässt sich anschließend von seiner Geliebten Eboli baden, dann mit deren Perlenkette peitschen.

Auch Elisabeth weiß zu hassen: Der untreuen Hofdame sticht sie die Augen aus. Bieito-Muse Leandra Overman macht aus ihrem im Dreck unter dem Bett gesungenen und gestöhnten "O don fatale" den schrecklichsten, aber auch den berührendsten Moment des langen Abends. Das Autodafé findet als große Glaubensshow auf einer Fanmeile voll fahnenschwenkender Proleten statt. Die schauen zu, wie ein Abtrünniger von Bischöfen mit dem Rosenkranz erdrosselt wird.

Nackte Ketzer, die später in Philipps Schlafzimmer abgestochen werden, knien zwischen Tanzenden, eine aufgedonnerte Blondine verspricht Tröstung vom Himmel. Die Blaskapelle spielt und zieht zur Pause ins Foyer, während Graf Lerma García Lorca rezitiert.

Das ist so grell und schrill, so kalkuliert skandalös wie von Calixto Bieito inzwischen erwartet. Doch zwischen dem Leerlauf beim steten Drehen der Gewaltschraube finden sich die Momente, die Verdis böses Stück überzeichnen, brennend gegenwärtig machen. Der rastlose Bieito muss nur aufpassen, dass sie nicht immer seltener werden.