Keinerlei Staub auf den Noten

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (13.12.2005)

Peter Grimes, 11.12.2005, Zürich

Eine aussergewöhnlich bildscharfe Aufführung, beklemmend und bewegend: Mit «Peter Grimes», Brittens erster Oper, hat das Opernhaus künstlerisch einen absoluten Volltreffer gelandet.

Staunen reihum, wenn der Vorhang hochgeht. Drei Etagen übereinander sitzen sie, die Bürger jenes Dorfs am Meer, jeder auf seinem Stuhl und jeder beschäftigt mit einer häuslichen Liebhaberei, Stricken zum Beispiel. Kleinbürgerliches Wohnzimmer-Idyll - aber Bühnenbildner Robert Israel verzichtet auf Wände und Decken und Fussböden. Jeder sieht jeden, einer überwacht den andern; in dieser Dorfgemeinschaft gibt es keine Rückzugsmöglichkeit in die vier Wände des eigenen Individuums, kein Abweichen von der Konformität.

Nur einer von ihnen ist nicht so. «Ich leb allein und bleibs auch gern», singt Peter Grimes; «ich will nicht, dass man sich einmischt.» Peter Grimes ist anders - und dadurch ein Stachel im fleischlichen Wohlgefühl der andern Dorfbewohnen Dagegen opponieren sie im kollektiven Bewusstsein, denn jede Gesellschaft braucht ihren zwielichtigen Aussenseiter, um selber umso unzweifelhafter im richtigen Licht zu stehen. Genau davon handelt Benjamin Brittens 1945 uraufgeführte Oper «Peter Grimes»: wie die normative Mehrheit der so genannt Normalen mit einem umgeht, der nicht so ist wie sie selber, und zu welchen Extremen, zu welchen Exzessen sie sich ihm gegenüber hinreissen lassen.

Heiss und kalt

Und das inszeniert David Pountney mit beklemmender Konsequenz. Ein Kammerspiel der widersprüchlichsten Gefühle, der mühsam unterdrückten und der wild entfesselten. Heiss und kalt entwickelt sich dieser Ausgrenzungsmechanismus über drei Akte hinweg, wobei die Spannung, die Intensität des Spiels wie überhaupt des Stücks zunehmend wächst und gleichsam zur eigenen Angespanntheit wird: Diesem Musiktheater kann man sich nicht entziehen.

Selbst dort, wo Licht aufscheint, in den Szenen zwischen Peter Grimes und Ellen, der einzigen, die ihn liebt und zu verstehen glaubt, bleibt alles kühl, hoffnungslos. Was Peter Grimes dabei fühlt, verdrängt er, bis das Verdrängte zu brodeln beginnt und in unkontrollierten, heftigen Ausbrüchen unverdaut an den Tag kommt. In solchen Momenten ist er ungerecht gegen sich und gegen andere, vor allem gegen seinen Fischerjungen und doch hat man Mitleid mit ihm. Leidet mit.

Bedeutende Musik

Ein zeitloses Thema und zeitlos in Szene gesetzt einerseits durch zeitgemäss elementare Bühnenkonstruktionen, die an einen Pier erinnern, denn das Meer, das nährende wie das bedrohende, ist in diesem Fischerdorf allgegenwärtig. Seine Bewohner könnten andererseits einem Gemälde der vorletzten Jahrhundertwende entsprungen sein, von Marie-Jeanne Lecca stilvoll kostümiert. Jede Person ein eigener Charakter mit eigener Farbe und eigenen Gesten, und doch passen sie alle, bis auf Peter Grimes, wie die einzelnen Teile eines Puzzles nahtlos zusammen.

Auch in musikalischer Hinsicht fügt sich alles zu einem grossartigen Ganzen. Dirigent Franz Welser-Möst macht von Anfang an klar, wie sehr sich Brittens Musik durch jene Kantabilität auszeichnet, die aus dem intuitiven Verhältnis des Komponisten zur menschlichen Stimme resultiert, aber auch den sinnfälligen Wohlklang einer sanften Dissonanz kennt, die von Richard Strauss oder Debussy herrühren könnte. Bedeutende Musik, da gibt es keinerlei Zweifel, und unter Welser-Mösts kundiger Hand effektvoll,grossräumig disponiert. Da liegt keinerlei Staub auf den Noten. Im Gegenteil, sein Sinn für die Fragilität gewisser Momente in den Orchesterzwischenspielen, sein Gespür für das Emphatisch-Energische, aber auch für die musikalischen Linien mit
ihren lyrischen Vereinsamungen, das alles ist eine Offenbarung.

Einen wesentlichen Anteil daran hat auch der Chor des Opernhauses, der sich nicht nur stimmgewaltig in Szene setzt, sondern auch schauspielerisch ins beste Licht bringt und dabei Grösse, Unerbittlichkeit und (Über-)Macht demonstriert. Die zahlreichen Sängerinnen und Sänger (17 Rollen sind es insgesamt) lassen sich vom lebensprallen Drive der Inszenierung, aber auch vom Tiefgang ihrer Bedeutungshaftigkeit zu Höchstleistungen beflügeln.

Christopher Ventris ist in jeder Hinsicht ein idealer Peter Grimes mit herb aufbegehrerischen Tönen, aber auch mit leisen, verletzlichen. Absolut packend ist sein subtiler Umgang mit dem gesungenen Wort. Emily Magee stattet Ellen mit einem humanen stimmlichen Wohlklang aus. Auch sie ist eine intensive Gestalterin, und noch im Scheitern wahrt sie menschliche Grösse. Wenn sie beide mit dem toten Fischerjungen auf ihren Knien dasitzen - ein Bild von beklemmender Suggestivität -, wird nachfühlbar, dass ihre Beziehung nicht zum Leben bestimmt ist, nicht gelebt werden kann. Überhaupt: spiegelt sich im Schicksal der Fischerjungen, die nie sprechen wollen, nicht Peter Grimes' eigenes Schicksal? Er war doch auch mal Junge.

Moralisch und amoralisch

Aus der Menge der Dorfbewohner ragt Alfred Muff als-bärbeissiger Kapitän heraus, der das Hin und Her zwischen den Fronten (sowie die Gefahr des Eingeklemmtwerdens) mit elementarer Wucht ausspielt. Liliana Nikiteanu als Auntie und ihre beiden Nichten Sandra Trattnigg und Liuba Chuchrova repräsentieren die verführerischen, die amoralischen Bezirke, gleichsam das Rotlicht-Milieu in einer normativ konformen Gesellschaft, wogegen Cornelia Kallisch als Mrs Sedley mit schon süchtigem Eifer über diese Moral wacht, die eine doppelbödig moralinsaure ist.

Alles in allem einer jener seltenen Opernabende, die man nicht leichterdings wegstecken kann, wenn die Vorstellung aus ist.