Lilo Weber, Neue Zürcher Zeitung (19.12.2016)
Glucks «Orfeo ed Euridice» als Gesamtkunstwerk in St. Gallen
Christoph Willibald Glucks Oper «Orfeo ed Euridice» von 1762 ist ein beliebter Stoff auf westlichen Tanzbühnen. Gut gemacht, wird sie zum berührenden Gesamtkunstwerk – eine «Tanzoper» bringt nämlich Sänger, Tänzer, Orchester und Chor zusammen und liefert auf diese Weise einen guten Grund, warum eine Tanzkompanie Teil eines Theaters ist und nicht sich selbst gehört.
In Basel hatten sich vor vielen Jahren Heinz Spoerli und später Joachim Schlömer der Oper angenommen, in St. Gallen schon 1993 Jurek Makarowski. Nun hat sie Beate Vollack daselbst erneut auf die Bühne gebracht, mit dem Griechen George Petrou am Pult. Derlei liegt der St. Galler Tanzchefin. Sie kann Chöre effektvoll in Szene setzen und auch Sänger schlüssig bewegen – auch den Countertenor Xavier Sabata in der Titelrolle, den eigentlichen Star des Abends.
Unnötige Spässe
Anders als in vielen choreografischen Umsetzungen der Oper hat Vollack dem Titelhelden keinen Tänzer-Orfeo an die Seite gegeben, sondern lediglich Euridice und Amor doppelt besetzt. Orfeo lässt sie einfach singen und klagen, und das ist so herzzerreissend, dass jede Verdoppelung stören würde.
Nicht nachvollziehbar ist indes, warum er, wenn er die Furien mit seiner Musik rühren will, seinen Oberkörper mit Harfen-Tattoo auf dem Rücken entblösst, das er nun im Muskelspiel zur Harfe aus dem Orchestergraben wackeln lässt. Derlei Spässe sind unnötig, braucht doch Xavier Sabata bloss die Stimme zu erheben «Deh! placatevi con me, Furie», und was immer da wüten möge, verstummt.
Unnötig auch, dass zu Beginn die tote Euridice zu den Klagen der Hirten und Nymphen um Orfeo tanzt. In der Oper tritt Euridice, hier Tatjana Schneider, erst spät auf, als Orfeo sie in der Unterwelt findet. Vollack möchte nun zeigen, dass sie ihn als Erinnerung nie verlässt. Das wissen wir indes aus seinem Gesang. Der Tanz von Cecilia Wretemark erinnert denn auch eher an Kate Bushs Tanz durch «Wuthering Heights» als an ein Gedächtnisbild.
Im Mythos wie in Glucks Oper stirbt Eurydike zwei Mal. Weil sich Orpheus auf dem Weg aus dem Hades nach ihr umschaut, entschwindet sie ihm. Doch nach Ranieri de' Calzabigis Libretto bekommt das Liebespaar von Amor eine dritte Chance – und Glucks Oper ein Happy End.
Das bereitet Regisseuren seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend Mühe: Einige ändern den Schluss und somit auch die Musik – wie Pina Bausch. Bei Schlömer siegte die Liebe im Gesang, nicht aber im parallel gesetzten Tanz. Und Hofesh Shechter liess letztes Jahr im Londoner Royal Opera House Covent Garden die Tänzer einen wüsten Tanz tanzen und so den versöhnlichen Schluss unterminieren.
Schaurig-schön
Beate Vollack gibt Amor einen Doppelgänger mit auf den Weg. Den Sänger-Amor, Sheida Damghani, hat Kinsun Chan in ein hellblaues Kleid mit weissen Wölkchen gekleidet, während der Tänzer-Amor, David Schwindling, grauen Himmel trägt und die Schatten der Liebe verkörpert. Während die Sängerin die Liebe bejubelt, schaut der Tänzer düster drein und macht sich zuweilen, mehr Teufel denn Amor, an die Liebenden heran. Das absurde Bild spiegelt das Unheimliche, das der Chor evoziert.
Den Sängerinnen und Sängern hat Kinsun Chan eine Empore gegeben, von wo sie, ganz in Schwarz mit kreideweissen Gesichtern, das Geschehen mit einfachen, klaren Bewegungen kommentieren – schaurig-schön. Während George Petrou das St. Galler Orchester zügig vorantreibt – man wünschte sich noch mehr von dieser Kargheit in der Verbildlichung der Gefühle.